Thomas Petersen / 06.06.2013 / 23:49 / 0 / Seite ausdrucken

Klopfzeichen aus der Welt der Sozialwissenschaften (Folge 15)

„Weil die Grillen zirpen, geht die Sonne unter“

„Sex-Träume sind gut für die Karriere“ lautete vor Jahren einmal eine Schlagzeile in der Münchner „Abendzeitung“. Der Artikel erläuterte, dass Menschen, die häufig erotische Träume haben, im Berufsleben kreativer, phantasievoller und damit letztlich auch erfolgreicher seien als ihre Kollegen mit weniger anregenden Traumerlebnissen.

Der Bayerische Rundfunk meldete in seinem Nachrichtenradio „B5 aktuell“ in den Wissenschaftsnachrichten: „Wer meint, eine Zigarette beruhige die Nerven, wird überrascht sein. Denn gerade Raucher sind offenbar besonders anfällig für Panikattacken. Das haben Wissenschaftler in Detroit und an der Columbia-University in New York belegt. Sie befragten über 5000 Personen nach Anzeichen für Panikattacken (...). Das Ergebnis: Für Menschen, die täglich zur Zigarette greifen, ist das Risiko, in Panik zu geraten, zwei bis dreimal höher als für Nichtraucher. Grund dafür könnten noch unbekannte Wirkungen des Nikotins auf Prozesse im Gehirn sein.“

Beide Meldungen sind Beispiele für einen der häufigsten Interpretationsfehler, die man in der Berichterstattung über statistische Daten finden kann: Das Vertauschen von Ursache und Wirkung. Sozialwissenschaftliche Untersuchungsergebnisse, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen, bestehen meistens aus der Zusammenführung zweier Informationen, einer sogenannten Korrelation: Die Information, ob jemand raucht oder nicht, wird mit der Information, ob jemand zu Panikattacken neigt oder nicht, verknüpft. Stellt man dabei fest, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Informationen gibt, neigt man dazu, dies als Ursache und Wirkung zu interpretieren. Das kann durchaus ein Irrtum sein, wie schon einmal an anderer Stelle beschrieben wurde, doch selbst wenn es sich tatsächlich um eine Ursache-Wirkung-Beziehung handelt, stellt sich immer noch die Frage, welche der beiden Variablen die Ursache und welche die Wirkung ist. Die Korrelation selbst sagt, streng genommen, nichts darüber aus, sie ist einfach eine statistische Maßzahl, die den Zusammenhang als solchen, nicht aber seine Richtung beschreibt. Aber oft gibt es natürliche Verdächtige.

Man kann in vielen Fällen mit einem leichten Gedankenspiel prüfen, ob die Wirkungsrichtung eines Befundes wahrscheinlich korrekt gewählt worden ist oder nicht. Man muss nur Ursache und Wirkung in Gedanken einmal probehalber vertauschen. Bei der Nachricht, wonach Rauchen Panikattacken verursache, verwandelt sich daraufhin die vermeintliche Sensation in eine Banalität, nämlich die Meldung, dass Hektiker öfter zur Zigarette greifen als ruhige Menschen. Theoretisch mag es ja sein, dass Zigarettenrauch nervös macht, doch zumindest braucht man keine Verweise auf rätselhafte, bisher unbekannte Wirkungen des Nikotins, um den Zusammenhang zwischen Rauchen und Nervosität leicht und plausibel zu erklären.

Und die Sex-Träume? Dreht man hier die Argumentation um, bleibt von der Schlagzeile die wenig überraschende Feststellung übrig, dass phantasievolle Menschen auch phantasievoll träumen. Wer also verzweifelt auf der Suche nach einer Schlagzeile ist, muss nur eine Selbstverständlichkeit auf den Kopf stellen, und schon sieht sie wie ein überraschender Befund aus. Auch Wissenschaftlern unterläuft dieser Denkfehler erstaunlich häufig. Kürzlich musste ich das Manuskript eines Artikels für eine Fachzeitschrift begutachten, in dem die These aufgestellt wurde, dass die Wähler einen Kandidaten, der in Wahlumfragen vorn liegt, als kompetenter einschätzen als einen Kandidaten, der in den Wahlumfragen hinten liegt. Der Pionier der Umfrageforschung Elmo Roper hätte darauf geantwortet: „Sie meinen also, weil die Grillen zirpen, geht die Sonne unter?“

Es kann richtig Spaß machen, aus marktschreierischen Schlagzeilen durch simples Umdrehen der Argumentationsrichtung die Luft herauszulassen, doch man muss aufpassen, dass man dabei nicht zum Opfer des eigenen Hochmuts wird. Vor einigen Jahren las ich auf „Spiegel Online“ die wunderbare Schlagzeile „Geringes Selbstwertgefühl macht dick.“ Begeistert druckte ich den Text aus, um ihn als Musterbeispiel für eine Fehlinterpretation meinen Studenten zu zeigen. Zum Glück las ich ihn dann noch einmal gründlich durch und stellte fest, dass die Forscher das Risiko des Vertauschens von Ursache und Wirkung ausgeschlossen hatten: Sie hatten Jugendliche über mehrere Jahre hinweg beobachtet und gleich zu Anfang das Selbstwertgefühl gemessen. Dann erst stellten sie fest, dass diejenigen, die von Anfang an ein geringes Selbstbewusstsein hatten, in den Jahren danach überproportional häufig dicker wurden. Das ist das Schöne an der Sozialwissenschaft: Manchmal zeigt sie, dass scheinbar verquere Annahmen vielleicht doch richtig sind.

Dr. Thomas Petersen ist Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach

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