In der Debatte um den Bundespräsidenten geht es längst nicht mehr um diesen. Es geht um die politische Klasse insgesamt. Diese Debatte war fällig, und die Sache mit dem Bundespräsidenten womöglich nur der Anlass. Gerade weil es nicht um eine bestimmte Partei geht, sondern um den ganzen Block, eignete sich der handlungspolitisch Neutrale, der Protagonist im Amt des Präsidenten, zu Vorführung.
Das verrät uns nicht zuletzt das fortwährende Anschwellen der Debatte. Indem sie vom Banalen zum Bezeichnenden kommt, sagt sie uns etwas, was wir im Übrigen bereits zu glauben wissen. Sie sagt uns, dass unser System sich in der Krise befindet, aber auch, dass diese Krise durchaus nicht in dem, was wir bisher vermutet haben, besteht. Makroökonomisch, geopolitisch. Es ist vielmehr eine Krise der menschlichen Verhaltensweisen, kurz gesagt, eine Krise des moralischen Handelns.
Das Zentrum des Problems ist, so gesehen, ein philosophisches. Und sein Dilemma besteht darin, das der Anspruch, der von der Öffentlichkeit immer wieder holzschnittartig vorgetragen wird, zumindest in den Augen der Akteure ein veralteter ist. Unsere Zeit ist schließlich eine Zeit der Machbarkeit.
Wie soll sie sich auch anders verstehen? Mit der Ausrufung der Handlungsfreiheit hat man das moralische Mass aufgegeben. Man vertraut seither auf die Sachlichkeit. Der Ausdruck „Versachlichen“ ist zum Schlagwort geworden.
Die Unterscheidbarkeit von „falsch“ und „richtig“ aber ist seit jeher mit einer Bewertung versehen, einer Bewertung, die dem Ganzen erst sein Gewicht gibt. Es ist nichts weiter als die Umsetzung ins Dramatische des Guten und Bösen.
Nun ist es aber so, dass das Spannungsverhältnis von gut und böse, und die Verständigung darüber, durch die Einebnung der Diskurse aufgelöst wurde. Dem folgte der Kurzschluss, dass diese Auflösung auch eine Lösung beinhalten würde. Das vollständige Ergebnis besteht nun darin, dass das Gute inflationär gehandhabt wird, und das Böse kaum noch zu erkennen ist.
Nicht zuletzt hat dieser Zustand auch die Rolle der Öffentlichkeit ausgehebelt. Alles, was erkennbar war und als sinnvoll angesehen werden konnte, war moralisch gekennzeichnet. Eine Öffentlichkeit, die keine moralischen Maßstäbe zur Verfügung hat, kann nicht mehr allzuviel ausrichten.Woran soll sie sich messen? Wohin soll sie sich bewegen?
Sie ist nur noch da, um die Banalitäten aus dem politischen Leben zu kommunizieren und vor allem zu publizieren. Es ist das große Risiko der Republik, das sich früher oder später an ihrer Spitze eine Schicht bildet, die bald nicht nur den Ort der Handlung teilt, sondern darüber hinaus der gemeinsamen Interessenbildung zuneigt. So kommt es zur paradoxen Situation, dass auch die Opposition, gegen den Rest der Gesellschaft, gemeinsam mit der Regierung ins Feld ziehen kann oder gar muss. Gerade weil alles geregelt ist, konnte die Regelverletzung alltäglich werden. Weil bei all dem Kleingedruckten kaum noch Platz für die geringste Änderung geblieben ist.
Den Politikern geht es wie allen anderen auch. Wer etwas ändern will, muss zuerst einmal durch das gesamte in Jahrzehnten ausgebaute Labyrinth der Paragraphen stoßen, um überhaupt anfangen zu können. Auch der Politiker ist vom Zustand umgeben und überwältigt.Was von ihm berichtet wird, ist bald nur noch Boulevardsache. Die politische Klasse insgesamt, nichts als B- Prominenz. Über sie und ihr Schicksal kann sogar der Bürger entscheiden, aber was hat er davon?