Gastautor / 24.09.2010 / 11:56 / 0 / Seite ausdrucken

Keine Ahnung von Antisemitismus

Benjamin Weinthal

Wenn Deutsche sich zu Israel äussern, spielt die NS-Vergangenheit fast immer eine Rolle. Viele Diskussionsbeiträge sind von dem Bemühen gekennzeichnet, das eigene, aus dem Holocaust resultierende schlechte Gewissen zu entlasten. Sei es dadurch, dass viele Deutsche sich mit dem Hinweis auf die angebliche «Bewältigung» ihrer eigenen Geschichte moralisch verpflichtet fühlen, vermeintliche oder tatsächliche Menschenrechtsverletzungen anderer anzuprangern – vorzugsweise jene der Israelis.

Wie weit der nationale Konsens bei der Kritik an Israel reicht, verdeutlicht ein Beschluss des Deutschen Bundestages: Am 1. Juli dieses Jahres entschied das Parlament einstimmig,
Israel wegen seiner Blockade des Gazastreifens und der «Unverhältnismässigkeit» des israelischen Marineeinsatzes gegen die “Mavi Marmara” von zu verurteilen. Ein beispielloser Vorgang.

Auch Thilo Sarrazin, inzwischen Ex-Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, bekommt in diesen Wochen einen fraktionsübergreifenden Konsens gegen seine Thesen zu spüren. Er ist eine Projektionsfläche für die deutsche Politik und einen grossen Teil der Medien geworden, weil er hart mit dem politischen Islam ins Gericht geht. Bereits das war ein Frontalangriff auf die politische Korrektheit. Als Sarrazin dann auch noch in einem Zeitungsinterview behauptete, alle Juden teilten ein bestimmtes Gen, das sie von anderen unterscheide, erreichte die Empörung ihren Zenit.

Als Replik auf Sarrazins Äusserung über das «jüdische Gen» brachte zuerst ausgerechnet der deutsche Aussenminister Guido Westerwelle (FDP) den Antisemitismus ins Spiel.
«Wortmeldungen, die Rassismus oder gar Antisemitismus Vorschub leisten, haben in der politischen Diskussion nichts zu suchen», sagte Westerwelle – dem lange zu der antisemitischen Kampagne seines Parteikollegen Jürgen W. Möllemann während des Wahlkampfs 2002 nichts einfiel. Auch gegenüber dem radikalen Islam zeigt sich der FDP-Vorsitzende nachsichtig. In einem Interview mit der Illustrierten Bunte begründete er unlängst, warum er mit seinem schwulen Partner nicht in islamische Länder wie Saudi Arabien reist, in denen Homosexualität strafbar ist: «Wir wollen den Gedanken der Toleranz in der Welt befördern. Aber wir wollen auch nicht das Gegenteil erreichen, indem
wir uns unüberlegt verhalten.» Für das saudische Regime u. a. bedeutet Westerwelles Toleranz für islamische Intoleranz einen Persilschein, Schwule zu verfolgen und hinzurichten.

Sarrazin Judenhass vorzuwerfen, ist nicht nur lächerlich, sondern zeugt von einem fehlenden Verständnis für den realen Antisemitismus. Der Antisemitismusvorwurf ist ein Teil
der Stimmungsmache gegen Sarrazins Auseinandersetzung mit dem Islamismus; ein unbequemer Kritiker sollte auf diese Weise mundtot gemacht werden. Eine völlig normale Debatte über die genetischen Wurzeln von Juden – die bereits ausführlich in der New York Times sowie in israelischen Medien und jüdischen Zeitungen geführt wurde - gerät in Deutschland aufgrund der NS-Geschichte zu einer höchst irrationalen Diskussion. Stimmen wie die des in Deutschland geborenen israelischen Autors Chaim Noll sind darin selten. Noll schrieb in der Frankfurter All gemeinen Zeitung: «Ein Tabu, jüdische Identität mit Genetik in Zusammenhang zu bringen, besteht hierzulande nicht.» Damit meinte er: in Israel. Vielmehr gebe es wissenschaftliche Studien zu diesem Thema, die von Genforschern in New York und Haifa verfasst worden seien. Noll – und mit ihm viele Israelis – halten die deutsche Reaktion auf Sarrazins Thesen für völlig überzogen.

Das findet auch Jonathan Hoffman, einer der stellvertretenden Vorsitzenden der britischen Zionistischen Föderation, der in der Vertretung der britischen Juden sitzt. Gegenüber
dem Verfasser dieser Zeilen sagte Hoffman zu Sarrazins These, es gebe ein jüdisches Gen: «Diese Aussage ist aus zwei Gründen nicht völlig korrekt. Erstens, weil es möglich ist, zum Judentum zu konvertieren, und zweitens, weil nicht alle Juden ein bestimmtes Gen gemeinsam haben. Bei einigen Juden ist dies jedoch sicherlich der Fall. Dies wurde beispielsweise durch eine von Dr. Karl Skorecki durchgeführte DNA Untersuchung gezeigt, bei der eine Gruppe von Cohens» – ein Cohen ist ein Nachfolger der Hohepriester im Tempel «einer Vergleichsgruppe gegenübergestellt wurde. 97 von 106 Cohens wiesen denselben Satz von Chromosom-Markern auf. Sarrazins Aussage mag ungenau sein, aber sie war sicher nicht antisemitisch. Jeder, der dies behauptet, hat unrecht.» Sarrazin hat inzwischen bedauert, sich unpräzise ausgedrückt zu haben.

Doch sei seine These eine «inhaltliche Dummheit, keine inhaltliche Falschheit» gewesen. Es ist bemerkenswert, dass Sarrazin – anders als die deutsche Politik und ein signifikanter
Teil der deutschen Medien – bereit ist, Fehler einzugestehen und zu korrigieren.

Vor diesem Hintergrund kann man die Antisemitismusdebatte um Sarrazin als einen Versuch sehen, mit dem aus der Islamischen Republik Iran kommenden Kampfbegriff
«Islamophobie» den deutschen Antisemitismus zu verharmlosen. Im Klartext: Die neue Entlastung für das Verbrechen des Holocausts ist die bei vielen deutschen Professoren,
Politikern und Journalisten beliebte, aber hochgradig absurde These, die Muslime seien die Juden von heute.

C: Weltwoche 36/10

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