Mit Entsetzen nimmt der Arbeitskreis Ju?discher Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das deutsche Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu Kenntnis. Die Entscheidung Deutschlands sich bei der Frage der Einrichtung und U?berwachung der Flugverbotszone u?ber Libyen zu enthalten, ist skandalo?s genug. Noch skandalo?ser ist die Tatsache, dass der deutsche Außenminister nach Presseberichten versucht haben soll, weitere Mitglieder des ho?chsten Gremiums zur Verhinderung der Resolution zu bewegen.
Durch ihre Weigerung, die arabische Demokratiebewegung auch milita?risch zu schu?tzen, verweigert die Bundesregierung verzweifelten Menschen den Schutz vor Folter und Mord. Neben humanita?ren Folgen hat die Entscheidung auch Konsequenzen fu?r die gesamte Lage im Nahen Osten, denn sie sta?rkt einen grausamen Gewaltherrscher, der seit Jahren aggressiv den Nahostkonflikt anheizt, Feindbilder schu?rt und Terroristen unterstu?tzt.
Die Risiken eines Einsatzes u?ber Libyen sind allen Beteiligten bewusst. Doch es gibt keinen Schutz fu?r Menschenleben und keine Verteidigung von Menschenrechten, die ohne Risiken auskommen. Gerade im Lichte der ausgesprochenen Unterstu?tzung seitens der arabischen Liga und weil die Entscheidung durch den multilateralen Rahmen der Vereinten Nationen legitimiert ist, bleibt das Vorgehen der Bundesregierung in dieser Frage kaum nachvollziehbar.
Erst vor kurzem ließ sich der deutsche Außenminister von der Menge auf dem Kairoer Tahiri Platz feiern. Nun kehrt er den Freiheitsaspirationen im Nachbarland Libyen den Ru?cken zu. Indes sind Freiheitsbestrebungen der Menschen in arabischen Staaten fu?r sie selbst ein Anspruch und fu?r uns alle – eine Chance. Ihren Freiheitsanspruch mu?ssen wir begru?ßen, unsere Chance mu?ssen wir nutzen.
Weil diese Menschen einen Anspruch auf Freiheit haben, du?rfen wir nicht aus politischen oder wirtschaftlichen Gru?nden einen Schulterschluss mit Diktatoren suchen oder rechtfertigen. Einer Stabilita?t der Mubaraks und Ben Alis du?rfen wir nicht nachweinen, stattdessen mu?ssen wir Demokratie als natu?rlichen Zustand aller Vo?lker, auch derer im Nahen und Mittleren Osten, anerkennen. Wir teilen nicht das Unbehagen unter einigen Vertretern der ju?dischen Organisationen oder unter israelischen politischen Eliten angesichts der Volksaufsta?nde in arabischen Staaten.
Wir sind der Meinung, dass die Freiheit von Menschen nicht zugunsten der regionalen Stabilita?t oder der Sicherheit fu?r Nachbarstaaten geopfert werden darf.
Mehr noch: Wir sehen durch die arabischen Demokratiebewegungen eine große politische und menschliche Chance: endlich ko?nnte es mo?glich sein, die festverankerte Stabilita?t der Feindbilder und der Hetze, die seit Jahrzehnten zu Krieg und Terror im Nahen Osten fu?hren, aufzubrechen. Gerade die Despoten der arabischen Welt haben den Frieden mit Israel durch Hetze und Unterstu?tzung von Terrorgruppen schwerer gemacht, als er ohnehin ist. Der Konflikt mit Israel diente allen Despoten als zusa?tzliche Legitimation ihrer Machtanspru?che. Es ist kein Zufall, dass die Hamas nach den ersten westlichen Angriffen auf die Gaddafi-Truppen aus Solidarita?t mit Gaddafi u?ber Raketen
auf Israel abgeschossen hat.
Wir hingegen hoffen, dass es durch demokratische Staaten mit Verfassungen, die die Menschenrechte ernst nehmen, in Israel zu einem anderen Bild von arabischen Staaten und in der arabischen Welt zu einem Umdenken gegenu?ber dem Westen und Israel kommt. Despoten brauchen Feindbilder zur Manipulation des Volkes. Demokratien sind zwar nicht an sich friedfertig, aber nur in einer Demokratie, wo es Meinungsfreiheit, freien Zugang zu Informationen und freie Meinungsbildung gibt, besteht die Chance, Feindbilder zu hinterfragen. So hat der Frieden eine Chance, wenn die Demokratie, bei allen Schwierigkeiten politischer und milita?rischer Art, eine reale Chance erha?lt.
Keiner kann mit Sicherheit voraussehen, ob diese Entwicklung gelingen wird, aber kaum jemand kann rechtfertigen, wenn wir aus Mutlosigkeit eine solche Entwicklung im Stich lassen. Deutschland hat die einzigartige Chance verpasst, sich als verantwortungsbewusste internationale Macht zu positionieren. Voll und ganz teilen wir daher die Einscha?tzung des außenpolitischen Sprechers der SPD-Fraktion Rolf Mu?tzenich, der vor dem Bundestag feststellte, dass Deutschland eine Chance verpasst habe, der „mo?rderischen Konsequenz“, mit der das libysche Regimes gegen das eigene Volk vorgeht, entgegenzutreten.
Auf einer Pflicht zum politischen Handeln basiert die Sozialdemokratie. Diese Pflicht ist auch im Judentum tief verankert. Schon im ?. Jahrhundert erkla?rte der Talmud: „Wer gegen die Fehltat der Stadtregierung nicht einschreitet, wird fu?r die Fehltat der Stadtregierung verantwortlich erkla?rt; und bei einer Fehltat mit Auswirkung fu?r die ganze Welt ist man fu?r die Fehltat von globaler Auswirkung verantwortlich.“
Die Bundesregierung soll sich ihrer globalen Verantwortung fu?r Ihr Nichteinschreiten bewusst sein.
Berlin, Frankfurt/Main AK Ju?discher SozialdemokratInnen Kontakt: j-sozis@web.de