Wenn man sich die Kommentierung des Abgangs des britischen Premierministers Tony Blair in deutschen Medien, aber auch in deutschen liberalen und konservativen Blogs ansieht, könnte man den Eindruck gewinnen, Blair sei zu einem Zeitpunkt gegangen, an dem er die sofortige Heiligsprechung gerade eben noch verhindern konnte. Vergleichbare Lobeshymnen auf aus dem Amt scheidende Politiker konnte man schon lange nicht mehr lesen. Ein großer Europäer sei Blair gewesen, ein überzeugter Marktwirtschaftler, ein außenpolitischer Überzeugungstäter. Diese Etiketten sind alle nicht ganz falsch, aber leider auch nicht ganz richtig.
Über Verstorbene soll man bekanntlich nichts Schlechtes sagen, aber da es zum Glück keine derartige Empfehlung für abgetretene Politiker gibt, sei hier ein wenig Wasser in den Wein überbordender Blair-Begeisterung deutscher Liberaler und Konservativer gegossen.
Die üblichen Hommagen an Tony Blair beginnen in aller Regel damit, dass man ihn zum legitimen Erben Margaret Thatchers stilisiert, der die wirtschaftsliberalen Reformen der Eisernen Lady konsequent fortgesetzt hätte. Damit habe er seinem Land ein Jahrzehnt stabilen Wirtschaftswachstums beschert. Doch ganz so war es nicht. Vergessen wird dabei, dass Blair 1997 eine gute Konjunkturentwicklung von seinem Vorgänger John Major geerbt hatte. Die Staatsfinanzen waren saniert, der Haushalt wies einen Überschuss auf. Doch die Haushaltsdisziplin der Blair/Brown-Regierung hielt nur zwei Jahre, in denen Gordon Brown “prudence” (Besonnenheit) zu seinem Lieblingswort machte. Danach drehte die Labour-Regierung die Staatsfinanzen von einem Haushaltsüberschuss in ein stattliches Haushaltsdefizit - trotz günstiger konjunktureller Rahmendaten.
Es war die Rückkehr zu typisch sozialdemokratischer Tax-and-Spend-Politik und dies hatte mit einer liberalen oder konservativen Wirtschaftspolitik nichts, aber auch gar nichts zu tun. Die Steuern stiegen drastisch, der britische Durchschnittshaushalt zahlt heute preisbereinigt 6000 Pfund mehr Steuern als am Ende der Regierungszeit von John Major. Hinzu kam eine Regulierungstätigkeit, die nur noch atemberaubend genannt werden kann. Im Schnitt alle drei Stunden und fünfzehn Minuten erließ Blairs Regierung neue Rechtsvorschriften. Allein die Seitenzahl der wichtigsten Steuergesetze verdoppelte sich in einem Jahrzehnt. Eine wirtschaftsliberale Politik sieht anders aus. Was man in Großbritannien erleben konnte, war Old Labour mit einer neuen, moderneren Verpackung.
Auch Blairs pro-europäische Haltung sollte kritischer betrachtet werden. Zwar war er deutlich europäischer eingestellt als frühere britische Premierminister, aber wenn man ihn an seinen Taten beurteilte, würde man feststellen, dass er sich in der praktischen Politik von diesen wenig unterschied. Den berühmten “Briten-Rabatt” verteidigte er mit der gleichen Vehemenz, mit der ihn die europaskeptische Margaret Thatcher einst erstritten hatte. Und wenn es Blair tatsächlich auf die Einführung des Euro abgesehen hatte, warum ließ er sich dann bei dem Vorhaben, Großbritannien der Währungsunion beitreten zu lassen, von seinem Schatzkanzler nahezu wehrlos ausbremsen? Gleichzeitig verhinderte Blair aber auch nicht (wie jüngst beim EU-Gipfel), dass weitere Kompetenzen von den Nationalstaaten zur EU verlagert werden. Warum findet ausgerechnet diese jedem Subsidiaritätsgedanken Hohn sprechende Politik den Beifall deutscher konservativer Kommentatoren? War nicht das europaskeptische Großbritannien stets ein gutes Korrektiv zur allzu EU-freundlichen, man könnte auch sagen: EU-naiven, deutschen Politik?
Zu kurz kommt bei der Beurteilung Blairs auch die Art seiner Amtsführung. Britische Regierungen zeichneten sich in der Vergangenheit dadurch aus, dass Entscheidungen im Kabinett getroffen und im Parlament kontrolliert wurden. Unter Blair wich das “cabinet government” jedoch einem informellen “sofa government”, “spin doctors” durften den Regierungsbediensteten erstmals Anweisungen geben (was die öffentliche Verwaltung zunehmend politisierte), und das Parlament wurde bei wichtigen Entscheidungen immer seltener konsultiert. Blair wiederum entwickelte sich zum ersten britischen Premierminister mit präsidialer Attitüde. Er hat dem britischen Parlamentarismus damit deutlichen Schaden zugefügt.
Auch auf Blairs Nähe zu Lobbyisten hätte man in den Hommagen an ihn hinweisen können. Erinnert sich noch jemand an die Beteuerungen des jungen Blair, seine Regierung werde “whiter than white” und “purer than pure” sein? Als dann die Tabakwerbung in Großbritannien verboten werden sollte, genügte jedoch eine Parteispende von einer Million Pfund von Bernie Ecclestone, um die Formel 1 von dem Verbot auszunehmen. Ein Zufall? Oder hatte dies System? Diese Frage darf spätestens gestellt werden, seitdem Blair die zweifelhafte Ehre zuteil wurde, als erster amtierender britischer Premier in einem Ermittlungsverfahren von der Polizei vernommen zu werden. Der Vorwurf: Seine Regierung habe Ehrentitel gegen Parteispenden verkauft.
Schließlich hätte man auch darüber sprechen können, dass Blairs Anti-Terrorkampf, so notwendig er auch ist, oft über das Ziel hinausgeschossen ist. Wer des Terrorismus verdächtigt wird, der soll angeklagt und bei entsprechender Beweislage verurteilt werden. In Blairs Großbritannien gab es aber auch Fälle, in denen lediglich Verdachtsmomente ausreichten, um Personen unter Hausarrest zu stellen - teilweise sogar Personen, die zuvor von Geschworenengerichten in Anti-Terrorverfahren freigesprochen worden waren. Für ein Land, das auf seine rechtsstaatliche Tradition stolz ist und für die Werte von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit weltweit eintritt, ist dies kaum eine Empfehlung.
Auf all dies hätten Kommentatoren auch hinweisen können, und nichts hätte sie daran gehindert, im selben Artikel auch auf die Verdienste Blairs hinzuweisen: den Nordirland-Friedensprozess, die erfolgreichen Interventionen im Kosovo und in Sierra Leone, Blairs Standhaftigkeit in der Verteidigung westlicher Werte gegenüber dem islamischen Fundamentalismus. Doch die kritische Distanz zu Tony Blair, der immer noch ein Politiker, kein Heiliger ist, fehlte überwiegend.
Vielleicht muss man es den deutschen Kommentatoren nachsehen, dass sie Blair so großzügig beurteilen, weil sie ihn an ihrer heimischen Politikerklasse messen - und da mag ein Tony Blair aus der Ferne betrachtet einem Gerhard Schröder um Längen überlegen erscheinen. Aber aus der Nahbetrachtung eines in Großbritannien lebenden deutschen Beobachters sei ihnen versichert: Blair war nicht die politische Lichtgestalt, als die er nun dargestellt wird. Er war ein enorm begabter und mit einem immensen Vertrauensvorschuss ausgestatteter Premierminister. Er hat zweifellos seine Verdienste. Aber er hätte deutlich mehr erreichen können.