Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 24.09.2012 / 04:18 / 0 / Seite ausdrucken

Hat das Bundesverfassungsgericht die Weichen für einen Ausstieg gestellt?

Als das Bundesverfassungsgericht den Weg zum Europäischen Stabilitätsmechanismus und zum Fiskalpakt freimachte, war von Märkten und Regierungen gleichermaßen ein kollektiver Seufzer der Erleichterung zu hören. Damit sei die letzte rechtliche Hürde genommen und nun könne der 700 Mrd. € schwere Fonds zur Stabilisierung der Europäischen Währungsunion und zur Rettung überschuldeter Regierungen und angeschlagener Banken eingerichtet und der Euro gerettet werden. So berichten es zumindest internationale Medien.

Letzte Woche besuchte ich meine Eltern in Deutschland und wir schauten uns im Fernsehen an, wie Verfassungsgerichtspräsident Andreas Vosskuhle sein Urteil verkündete. Nach einer halben Stunde Urteilsbegründung gab meine Mutter auf und ging verwirrt aus dem Zimmer. Die deutsche Rechtssprache ist wohl selbst im besten Falle nicht leicht zu verstehen, doch der hoch verdichtete und komplexe Sprachgebrauch des Verfassungsgerichts bildet seit jeher auf der nach oben offenen Skala der Unverständlichkeit eine Klasse für sich.

Verlautbarungen des höchsten deutschen Gerichts stellen vielleicht eine der wenigen Gelegenheiten dar, bei denen mein juristischer Doktortitel wirklich von Nutzen ist. Als ich bemerkte, dass bei Präsident Voßkuhles Urteilsbegründung meine Mutter, die abgesehen von juristischer Fachsprache des Deutschen perfekt mächtig ist, nicht mehr mitkam, fragte ich mich, wie viel die über das Urteil berichtenden internationalen Korrespondenten davon wohl verstanden hatten. Bei den meisten habe ich meine Zweifel, ob ihnen der Inhalt der Entscheidung wirklich klar geworden ist.

Die meisten internationalen Beobachter kamen zu dem Schluss, das Gericht habe den ESM und den EU-Fiskalpakt abgesegnet und die damit verbundenen Bedingungen seien kaum weiter erwähnenswert. Ich verstehe das Urteil etwas anders. Eindeutig ist, dass das Gericht die Politik von Kanzlerin Merkel nicht ausbremste. Seine Forderungen nach Klarstellungen und Zusicherungen und nicht zuletzt seine Nebenbemerkungen signalisieren jedoch, dass nach wie vor Zweifel an der weiteren Beteiligung Deutschlands an den Eurorettungsmaßnahmen bestehen.

Das Gericht beginnt seine Ausführungen mit der Verdeutlichung seiner eigenen Position in der deutschen Politik. Die Richter stellten unmissverständlich klar, dass sie sich nicht als Politiker verstehen. Sie lehnten es ab, sich in eine wie immer geartete Diskussion darüber hineinziehen zu lassen, ob die Eurorettungsmaßnahmen wirtschaftlich sinnvoll oder zu teuer sind oder eine höhere Inflation zur Folge haben werden. „Nicht unsere Aufgabe“, erklärten die Herren in den roten Roben. Eurorettungsmaßnahmen seien kompliziert, ihre Ergebnisse ungewiss und überhaupt handele es sich gar nicht um rechtliche Fragen, führte Präsident Voßkuhle an. Es sei Sache gewählter Politiker, sich mit diesen Problemen zu befassen – Politiker, die gegenüber dem Wahlvolk und nicht den Richtern Rechenschaft ablegen müssen.

Welche Aufgabe hatte das Verfassungsgericht dann? Ganz einfach: Dafür zu sorgen, dass im Zusammenhang mit der Eurokrise getroffene Entscheidungen mit der Verfassung im Allgemeinen und mit ihren demokratischen Prinzipien im Besonderen vereinbar sind. Das vornehmste unter diesen demokratischen Prinzipien sind die Haushaltsrechte des Parlaments. Keine Demokratie kann funktionieren, wenn Abgeordnete keine Kontrolle über Steuern und Ausgaben haben, und daher dürfte der Bundestag dieses zentrale Recht der fiskalischen Autonomie nicht aufgeben, so das Gericht.

Zugleich verlangte das Gericht Klarstellungen im Zuge der Ratifizierung der Europäischen Verträge. Bei deren Unterzeichnung sollte der Bundespräsident als Staatsoberhaupt sich zusichern lassen, dass die Gesamtsumme der von Deutschland übernommenen Risiken auf 190 Mrd. € begrenzt ist und dass ungeachtet der dem ESM und seinen Organen gewährten rechtlichen Immunität beide Kammern des deutschen Parlaments regelmäßig über die Maßnahmen des ESM informiert werden.

Die erste Bedingung ist von entscheidender Bedeutung. Vor dieser Klarstellung hieß es in manchen Interpretationen, der ESM sei zu einer einseitigen Anhebung der deutschen Haftung befugt. Sollte beispielsweise Italien Hilfe aus dem ESM benötigen, hätten die übrigen ESM-Mitglieder die Belastung Italiens im Verhältnis zu ihrem Anteil am gezeichneten Kapital des Fonds übernehmen können. Ein anderer Fall wäre eine Kapitalerhöhung des ESM gewesen, durch die Deutschlands Bürgschaften ebenfalls über die Marke von 190 Mrd. € gestiegen wären.

Nach der Entscheidung des Gerichts fallen diese Möglichkeiten beide weg. Jeder einzige Euro über dem von Deutschland vereinbarten Limit muss vom Parlament genehmigt werden. Der Bundestag kann vom ESM weder umgangen noch durch dessen Entscheidungen überrumpelt werden. Er muss jede Erweiterung seiner ursprünglich gewährten Bürgschaften genehmigen.

Dies ist keine rein technische Frage, sondern eine grundlegend andere Vorgehensweise, als sie die EU festlegen wollte. Während der ESM nach den ursprünglichen Plänen viel leichter mehr Geld von den nationalen Regierungen hätte verlangen können, müssen nun bei jeder neuen Bailout-Runde parlamentarische Mehrheiten gefunden werden. Das Interesse an einer solchen Politik dürfte schnell schwinden und damit sind potenziell die Spielregeln neu festgelegt.

Die Richter gingen ferner auf die Frage ein, ob der völkerrechtliche Charakter dieser neuen Verträge Deutschland für alle Zeit an sämtliche zukünftigen Handlungen des ESM binden würde. Keineswegs, meint das Gericht.

Da Deutschland nun dem ESM unter der Voraussetzung beitritt, dass seine Haftung begrenzt wäre und das Parlament von seinen offiziellen Vertretern gehört würde, kann Deutschland dies vom ESM in Zukunft auch billigerweise erwarten. Sollte sich jedoch herausstellen, dass diese Zusicherungen nicht eingehalten werden, hätte Deutschland jedes Recht, aus dem ESM auszutreten – obwohl der ESM-Vertrag kein spezielles Austrittsverfahren vorsieht.

Das Verfassungsgericht hat also ein ‘Ja, aber’-Urteil verkündet – wobei das ‘aber’ interessanter ist als das voran gegangene ‘ja’. Es verlangt nicht nur eine strikte Budgetbeschränkung des ESM, sondern ermöglicht es Deutschland sogar, zu einem beliebigen zukünftigen Zeitpunkt den ESM zu verlassen, wenn es seine Bedingungen nicht mehr erfüllt sieht.

Als wären diese gewichtigen Einschränkungen noch nicht gewichtig genug, erklärte das Gericht fast beiläufig, es werde demnächst die Rechtmäßigkeit der Anleihenkäufe der EZB analysieren. Darüber hatte das Gericht letzte Woche gar nicht zu entscheiden, doch dessen ungeachtet äußerten die Richter ihre Zweifel daran, dass Mario Draghis monetärer Aktionismus nach europäischem Recht zulässig ist. Das war ein Schuss vor den Bug der Europäischen Zentralbank.

Bei genauerem Studium des Urteils kann man kaum umhin, sich über den Gegensatz zwischen der in den Medien dargestellten Entscheidung des Gerichts und dessen tatsächlichen Ausführungen zu wundern. Das Urteil enthält keinen Blankoscheck, sondern etliche Einschränkungen, Forderungen nach Zusicherungen und Rechtsgutachten zur Rechtmäßigkeit der Eurorettungsmaßnahmen.

Nein, Deutschlands oberstes Gericht erteilte dem ESM und dem Fiskalpakt nicht sein uneingeschränktes Plazet, vom monetären Aktionismus der EZB ganz zu schweigen. Vielmehr hat es einer künftigen deutschen Regierung genügend Schlupflöcher eröffnet, um Deutschland aus der Eurozone zu nehmen.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.

‘Has Germany’s court set the stage for an exit?’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 20. September 2012. Aus dem Englischen von Cornelia Kähler (Fachübersetzungen - Wirtschaft, Recht, Finanzen).

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