Kolja Zydatiss / 14.02.2019 / 16:00 / 12 / Seite ausdrucken

Genießen verboten

Aktuell ist viel von der sogenannten „offenen Gesellschaft“ die Rede. Nach Ansicht tonangebender Kreise wird diese derzeit im gesamten Westen von einer „autoritären“ populistischen Revolte bedroht. Warum es sich hierbei meiner Ansicht nach um eine Fehleinschätzung handelt und der aktuelle „populistische Moment“ vielmehr eine Reaktion auf die illiberalen, antidemokratischen Neigungen der etablierten Politik ist, ist in dem Achgut.com-Beitrag "Gelbe Westen überall" beschrieben.

Einen besonders problematischen Aspekt des vorherrschenden technokratisch-paternalistischen Politikstils beleuchtet ein kürzlich von Christoph Lövenich und Johannes Richardt in der Edition-Novo herausgegebener Sammelband. In „Genießen verboten“ geht es um die zunehmende Politisierung und Verrechtlichung von Lebensstil- und Genussfragen. Essen nur mit reduziertem Fett-, Zucker- oder Kohlehydratgehalt, Sex idealerweise nach vorherigen „vertraglichen“ Abmachungen und Alkohol selbstverständlich nur „bewusst genießen“; das sind die Gebote der Stunde, die ihren Niederschlag in einer wachsenden Zahl von Gesetzen und bewusstseinsbildenden Kampagnen finden.

Oft gehören politische Kreise, die sich selbst als „progressiv“ betrachten, zu den größten Befürwortern von Maßnahmen wie Rauchverboten, nationalen Reduktionsstrategien für Salz, Zucker und Fett in Lebensmitteln, Kampagnen gegen das Fleischessen oder illiberalen Reformen des Sexualstrafrechts. Doch es wäre falsch, den aktuellen Zeitgeist als Zeichen eines linken Gestaltungswillens zu deuten, der in eine Art Neo-Jakobinertum umgeschlagen ist. Wie Johannes Richardt in seiner Einleitung darlegt, klammern sich unsere orientierungslosen Eliten an überholte politische Konzepte und als „alternativlos“ verkaufte Institutionen. Sie haben einen Großteil ihrer Gestaltungsmacht an demokratisch nur schwach legitimierte supranationale Organisationen abgegeben und sich von der Möglichkeit verabschiedet, grundlegende politische und ökonomische Weichenstellungen vorzunehmen. Vor dem Hintergrund dieser Führungskrise versuchen die Eliten zunehmend, ihre Macht durch die Rolle des „Kümmerers“ zu legitimieren.

Auf Reinheit und Askese fixierte Schichten

Das technokratische Management privater Verhaltensweisen trifft auf die Zustimmung bessergestellter, auf Reinheit und Askese fixierter Schichten. Außerdem kann die Politik laut Richardt auf die Unterstützung „zivilgesellschaftlicher“ Akteure aus den Bereichen Verbraucher- und Umweltschutz zählen. Diese nicht selten steuerfinanzierten NGOs suggerieren zusammen mit parastaatlichen Verbraucherzentralen und aktivistisch gepolten Wissenschaftlern einen großen Handlungsdruck bei bestimmten Themen. Hinzu kommen Journalisten mit „Haltung“, die die Welt „nachhaltiger“ und die Menschen „besser“ machen wollen und für die „die Industrie“ grundsätzlich moralisch verkommen ist. So ist laut Richardt ein gesellschaftliches Klima entstanden, in dem eine immer kleinteiligere staatliche Lifestyle-Regulierung als kaum noch hinterfragter politischer Common Sense gilt.

Im weiteren Verlauf des Buches beleuchtet eine internationale Gruppe von Autoren wichtige Einzelaspekte des neopuritanischen Zeitgeists und bricht eine Lanze für den selbstbestimmen Genuss. Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker erinnert in seinem Beitrag daran, dass ein gesundes Leben nicht gleichbedeutend mit einem guten Leben ist: „Wir leben ja nicht, um gesund zu bleiben, sondern wir möchten gesund bleiben, um möglichst lange ein Leben zu führen, das sich zu leben lohnt.“

Ein Beitrag des Wissenschaftsjournalisten Detlef Brendel zeigt auf, wie von wirtschaftlichen und ideologischen Motiven getriebene Akteure beim Thema Übergewicht eine Angstkulisse geschaffen haben, die einer kritischen wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält. In dieselbe Kerbe schlägt Thilo Spahl, der in seinem Beitrag die andauernde Moralpanik rund um Diabetes, Zucker und „dicke Kinder“ auseinandernimmt. Uwe Knop erinnert schließlich daran, dass allgemeingültige Empfehlungen für eine „gesunde Ernährung“ schlicht und einfach unseriös sind. Die Interpretation tausender widersprüchlicher Beobachtungsstudien sei eine Art Glaskugel-Lesen, konstatiert der Diplom-Ökotrophologe (Ernährungswissenschaftler) und empfiehlt, beim Essen mehr auf die Intuition zu vertrauen.

In weiteren Beiträgen geht es unter anderem um Alkohol- und Tabakbekämpfung, Glücksspielregulierung, Drogenpolitik, Fleischkonsum, die zunehmende Verbreitung sogenannter „Sündensteuern“ und die umstrittene Neuregelung des deutschen Sexualstrafrechts. Der Sammelband protokolliert nicht nur die schleichende Bevormundung in immer mehr Lebensbereichen, sondern betont auch deren politische Bedeutung.

Individuelle Freiheit und politische Freiheit gehören zusammen, lautet die Grundthese des Buches. Denn die Demokratie lebt von der Auffassung, dass erwachsene Menschen selbst am besten wissen, was gut für sie ist. Ein Staat, der die Bürger zur Verfügungsmasse wohlmeinender Sozialingenieure degradiert, untergräbt letztlich auch die kulturellen Voraussetzungen für das Funktionieren einer offenen Gesellschaft. Für die Autoren von „Genießen verboten“ ist dieser Begriff mehr als eine leere Floskel.

Christoph Lövenich und Johannes Richardt (Hg.): Genießen verboten: Über die Regulierung der kleinen Freuden des Lebens, Novo Argumente Verlag, Frankfurt/Main 2018, 198 Seiten, 12,00 Euro

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Wolfgang Schäfer / 14.02.2019

Ich weiß nicht, ob ich richtig liege; vielleicht kann man mich korrigieren; aber ich “rieche” bei “Reinheit und Askese” eine gewisse Nähe zum Nationalsozialismus.

Rudi Knoth / 14.02.2019

Es sieht so aus, daß mit “offene Gesellschaft” eher “offene Grenzen” gemeint ist. Es scheint wohl auch der Aspekt der Abgrenzung von den “sündigen kleinen Leuten” zu sein, mit bestimmten Ge- und Verboten der Lebensweise sich zu distanzieren. Das eigentlich seltsame ist, daß Vegetarier und Veganer trotzdem eher eine kleine Minderheit sind, aber deren Lebensweise umso mehr propagiert wird. Auch bezweifle ich, daß vegane Ernährung wirklich für den Klimaschutz notwendig ist, weil auch vor 200 Jahren viele Menschen Fleisch gegessen haben.

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