Von Joe Zammit-Lucia.
Die Ideen bedeutender Persönlichkeiten gehen im Regelfalll in die Binsen, da sie notwendigerweise von Durchschnittsmenschen umgesetzt werden müssen. Der Gedanke eines Europas der Zusammenarbeit für das übergeordnete Wohl des ganzen Kontinents gehört möglicherweise zu den ambitioniertesten politischen Projekten aller Zeiten. Diejenigen unter uns, die an diesen Traum geglaubt haben, sind heute angesichts seiner Umsetzung umso enttäuschter.
Die Europäische Gemeinschaft folgte anfangs dem Ideal, die Gemeinschaften und die einzelnen Bürger befreien zu wollen und ihnen die Mittel an die Hand zu geben, ihren eigenen Wohlstand und ihre eigene Zukunft zu gestalten. Es sollte eine Gemeinschaft sein, die die Werte der liberalen Demokratie in Europa verbreitet. Doch daraus wurde nach und nach eine hierarchisch strukturierte Bürokratie, die sich nun immer weiter von den Menschen entfernt und nicht auf die Anliegen und Sorgen der Bürger reagieren kann. Unweigerlich fühlt man sich hierbei an eine Erkenntnis Theodore Roosevelts erinnert: „Hinter dem, was wir für die Regierung halten, thront im Verborgenen eine Regierung ohne jede Bindung an und ohne jede Verantwortung für das Volk.“
Doch die Untergrabung der liberalen demokratischen Werte Europas geht noch darüber hinaus. Sie erstreckt sich selbst auf die Sprache und die Verhaltensweisen, die neuerdings leider aufkommen. Jegliche Kritik an der Europäischen Union wird als gefährlicher Verrat gewertet, den es zu unterbinden gilt – statt als konstruktiver Verbesserungsvorschlag. Eine solche Einstellung erinnert eher an die Diktaturen dieser Welt als an die Prinzipien einer liberalen Demokratie. Und trotz der vielen unbestreitbaren, offenkundigen Vorteile der Europäischen Union wird jedem Scheitern mit der Forderung nach „mehr Europa“ als Allheilmittel begegnet. Diese Sichtweise ähnelt erschreckend der Reaktion des Innenministeriums der UdSSR auf den Niedergang der Sowjetunion: Als Grund für das Scheitern des Projekts wurde nicht ein Scheitern des Systems angenommen, sondern dass es nicht kommunistisch genug sei.
Das Problem freier Wahlen ist, dass man nie weiß, wie sie ausgehen
Referenden in den Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel in Griechenland, Ungarn und den Niederlanden, begegnet die EU zudem mit Widerstand, Furcht und Geringschätzung. Dies lässt an den Ausspruch Wjatscheslaw Molotows denken, das Problem freier Wahlen sei, dass man nie wisse, wie diese ausgehen. Dadurch stehen Regierungen wie diejenige der Niederlande vor der Quadratur des Kreises, den ausdrücklichen Wunsch der Bürger und die Forderungen der Europäischen Union miteinander in Einklang zu bringen.
Beispielhaft dafür ist die Reaktion auf die Entscheidung der britischen Öffentlichkeit, die Europäische Union zu verlassen (Molotow lag richtig damit, dass man nie weiß, wie die Dinge ausgehen werden). Die vorherrschende Meinung war, dass die Briten für ihre Entscheidung, die Europäische Union zu verlassen, büßen müssten. Es wirkt, als gäbe es in Europa einen neuen Eisernen Vorhang. Und diejenigen, die die Grenzen überschreiten möchten, sollen darunter leiden.
In Deutschland hat man der Industrie unmissverständlich deutlich gemacht, dass das Unternehmenswachstum und das Wohlergehen der Mitarbeiter geopfert werden müssen, um Großbritannien zu bestrafen. Und diese Vorgabe stammt von einer Kanzlerin, die auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs geboren wurde und aufgewachsen ist. All das verrät ein mangelndes Vertrauen in das europäische Projekt und eine so tiefsitzende Furcht vor dem Scheitern, dass statt der Vorteile des Projekts vielmehr eine Form der Gewalt gegen alle, die aus der EU austreten möchten, im Vordergrund steht – quasi als Abschreckung für all jene, die ebenfalls die Flucht ergreifen möchten.
Doch das Schlimmste daran: Die meisten rechtmäßig gewählten Regierungen in den Mitgliedstaaten erkennen dieses Scheitern. Dennoch stehen sie ihm machtlos gegenüber. Sie befürchten, dass der Beschluss bedeutender, grundlegender und wichtiger Reformen der Europäischen Union ins Straucheln geraten wird. Niemand hat den Mut, sich dem fundamentalistischen Gruppendenken in Europa entgegenzustellen, das die Europäische Union in den Abgrund zu treiben droht.
Nicht gewählte Technokraten und ein unnahbares Europäisches Parlament
Soll die Europäische Union überleben, muss sie ihre Gründungsprinzipien und die hochfliegende Vision ihrer Gründer wiederentdecken. Es geht darum, wieder die Vorherrschaft gewählter Nationalregierungen gegenüber den nicht gewählten Technokraten und dem unnahbaren Europäischen Parlament geltend zu machen. Es geht darum, dass die Bürger wieder einbezogen werden. Um die Überzeugung, dass die Meinung der Menschen etwas zählt, dass die Institutionen auf die öffentliche Stimmung reagieren und sich für und nicht gegen die Interessen der Bürger einsetzen. Darum, Möglichkeiten zu finden, wie die EU-Mitgliedsstaaten gleichzeitig voneinander abhängig und unabhängig sein können. Es geht darum, sich die Worte des Schuman-Plans wieder vor Augen zu führen, der 1950 die Montanunion begründete: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlag herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“
Diese Aussage impliziert vielmehr einen graduellen Wandel, bei dem die Solidarität der Länder Europas der Vertiefung der institutionellen Integration vorausgeht. Sie impliziert eine variable Geometrie, statt eines „einzelnen Plans“, an den sich jeder zu halten hat. Sie impliziert die Notwendigkeit, dass rechtmäßig gewählte Regierungen die Richtung vorgeben müssen – und keineswegs die Technokraten in der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank.
Es ist unklar, wer eine solche Transformation voranbringen soll, ohne die das europäische Projekt mit Sicherheit scheitern wird. Wer wird hier die führende Rolle übernehmen? Wer wird, um es mit den Worten Alexander Dubčeks zu sagen, für ein „Europa mit menschlichem Antlitz“ kämpfen?
Solche Initiativen müssen, so sie denn eingeleitet werden, von führenden Kräften in den Mitgliedsstaaten ausgehen. Führende Kräfte, die nicht vor einer Umwälzung des Status Quo zurückscheuen. Führende Kräfte, die eine nationenübergreifende Koalition zu schaffen vermögen, die die öffentliche Stimmung einfängt und entsprechend handelt – statt wie ein Reh im Scheinwerferlicht dazustehen und es zuzulassen, dass Wilders, Petry, Le Pen und Farage als die Einzigen erscheinen, die für das Volk sprechen. Von Brüssel werden keine Veränderungen ausgehen. Denn das Handeln Brüssels und der europäischen Fundamentalisten erinnert an die Beschreibung von Philipp II. von Spanien durch Historiker: „Kein Scheitern seiner Politik konnte seine Überzeugung erschüttern, dass diese von Grund auf herausragend war.“
Joe Zammit-Lucia ist Mitverantwortlicher von radix.org.uk und Co-Autor des Buchs „The Death of Liberal Democracy?“. Er ist unter folgender E-Mail-Adresse zu erreichen: joezl@me.com