Christian Osthold, Gastautor / 26.06.2023 / 10:00 / Foto: Imago / 67 / Seite ausdrucken

Der Putsch-Abbruch und das Sterben an der Front

Während die Wagner-Truppe zum Putsch auszog und wieder zurückgezogen wurde, spielt sich in der Südukraine ein grausames Massensterben ab. In den dortigen Schützengräben führen ukrainische und russische Soldaten einen erbitterten Überlebenskampf. 

Es sind verstörende Aufnahmen, die jüngst auf verschiedenen Telegram-Kanälen zu sehen waren. Sie stammen von einem Video des ukrainischen Militärs. Es zeigt die Säuberung russischer Grabensysteme. Nur selten ist die Brutalität des Krieges in solch drastischer Unmittelbarkeit zutage getreten.

Leise steigen ukrainische Spezialeinheiten in den etwa zwei Meter tiefen Graben hinab. Ihre Sturmgewehre sind mit Schalldämpfern ausgestattet. Der Feind hat kaum eine Chance, die Eindringlinge rechtzeitig zu erkennen. Nicht zufällig werden die ersten zwei Russen von hinten erschossen. Ihre jähen Schreie verstummen, als ihnen die Ukrainer in die Köpfe schießen.

Instinktiv möchte man als Zuschauer nun innehalten. Im Kampfgeschehen bleibt dafür jedoch keine Zeit. Mit schnellen Schritten eilen zwei weitere Soldaten heran. Offenbar haben sie das Wimmern ihrer Kameraden gehört. Die Sicht ist schlecht. Die vereinzelt in den Graben einfallenden Sonnenstrahlen werden durch aufgewirbelten Staub getrübt.

Tod aus Angst vorm Sterben

Aus einem benachbarten Korridor kommend, laufen die ihren Kameraden zur Hilfe eilenden Russen nun direkt ins feindliche Feuer. Die Szenerie ist dramatisch, sie wirkt surreal. Und dauert ebenfalls nur wenige Sekunden. Mehrfach getroffen, fallen die Männer zu Boden. Sie sind nicht tot, sondern stöhnen vor Schmerz. Ihr Leben endet, als ihre Köpfe von Projektilen durchschlagen werden.

Nachdem die Ukrainer innerhalb einer einzigen Minute vier Feinde getötet haben, gehen sie gegen einen Schutzraum vor. Auf Russisch fordern sie die darin ausharrenden Soldaten auf, sich zu ergeben. „Kommt heraus und Ihr werdet leben“, brüllen sie aus Leibeskräften. In ihren Stimmen schwingt die Melodie von Verachtung mit.

Die Eingeschlossenen kommen nicht. Zu groß ist die Furcht, ebenfalls getötet zu werden. Mit dieser Entscheidung haben sie ihr Schicksal besiegelt. Einer der Ukrainer wirft nun seine Handgranate in den Verschlag. Ein dumpfer Knall bezeugt die Detonation. Danach herrscht Stille.

Seit Beginn des Krieges habe ich hunderte Aufnahmen von der Front gesehen. Viele waren grausam und zynisch. Dennoch hat das Sterben der Soldaten noch nie sinnloser gewirkt. Und genau das ist der Vorwurf von Jewgenij Prigoschin. Es geht um mehr als einhunderttausend russische Männer, die seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine gefallen sind. Und um jene, die noch ihr Leben lassen werden.

Prigoschins Marsch nach Russland

Seit Monaten schon wirft der berüchtigte Wagner-Chef dem Verteidigungsministerium Gleichgültigkeit gegenüber dem Martyrium russischer Soldaten sowie den Boykott seiner Söldnermiliz vor. Prigoschins Machtkampf mit Sergej Schoigu und Generalstabschef Gerasimow hatte sich zuletzt immer mehr zugespitzt. Nun ist er endgültig eskaliert.

Auslöser war der Vorwurf Prigoschins, Schoigu habe einen Raketenangriff auf ein Feldlager von Wagner angeordnet. Am 23. Juni kursierte ein Video im Netz, das den Ort des Geschehens zeigen soll. Das Verteidigungsministerium hat den Vorwurf sofort als Lüge zurückgewiesen. Tatsächlich liegt nahe, dass die Geschichte frei erfunden ist. Der Putsch, welcher dann aus ihr resultierte, war jedoch real. Und offenbar lange geplant.

Es sei daran erinnert, dass sich der Konflikt zwischen der Gruppe Wagner und dem Verteidigungsministerium bereits 2020 zu einer persönlichen Fehde der an ihrer Spitze stehenden Männer entwickelt hatte. Getrieben von der Obsession, ihren Rivalen zu vernichten, haben beide jedes Maß verloren.

Mit seinem Entschluss, die Regierung zu entmachten, hat Prigoschin den Rubikon dann endgültig überschritten. Nur um dann kurz vor dem Ziel umzukehren. Die vergangenen 36 Stunden dürften somit zu den dramatischten Phasen der neueren Geschichte Russlands gehören.

In der Nacht auf den 24. Juni 2023 ist Jewgenij Prigoschin mit einer Streitmacht von 25.000 Mann in Russland einmarschiert. Beim Überschreiten der Grenze hat es keinen Widerstand gegeben. Dies ist insofern bemerkenswert, als Grenzposten gewöhnlich von Kräften des FSB überwacht werden. Als ehemaliger KGB-Offizier hat Putin hier eigentlich eine Hausmacht.

Kein Widerstand der Generäle

In den frühen Morgenstunden erreichten Prigoschins Truppen Rostow am Don, die Hauptstadt der gleichnamigen Oblast. Wie gewohnt, gingen seine Söldner professionell vor. Innerhalb von zwei Stunden brachten sie den Militärflughafen und das Gebäude des Verteidigungsministeriums unter ihre Kontrolle. Widerstand gab es nicht.

Die Übernahme Rostows war für Moskau ein Desaster. Denn damit hatte sich Wagner das Hauptquartier des Militärbezirks „Südrussland und Nordkaukasus“ einverleibt. In dessen Zuständigkeit fallen auch die 2014 annektierte Krim und die Schwarzmeerflotte. Praktisch alle großen Operationen in der Ukraine sind von hier aus koordiniert worden.

Gegen 8:00 Ortszeit tauchte dann ein Video im Netz auf, das Prigoschin im Gespräch mit Junusbek Jewkurow zeigt. Der aus Inguschetien stammende Politiker im Range eines Generals ist einer der Stellvertreter Schoigus. Ebenfalls anwesend war Wladimir Aleksejew, der stellvertretende Generalstabchef. Schuljungen gleich, nahmen beide kleinlaut die Anweisungen Prigoschins entgegen. Diese beinhalteten die sofortige Auslieferung von Schoigu und Gerasimow. Andernfalls werde man auf Moskau marschieren.

Und genau dazu kam es. Denn während Prigoschin Jewkurow und Aleksejew befragte, waren die Gesuchten längst nach Moskau geflohen. Zwischenzeitlich kursierte das Gerücht, Gerasimow verstecke sich in der Privatwohnung eines Freundes in Rostow. Bis zum Ende des Putsches sollte er nicht mehr auftauchen.

Kaum Gegenwehr in Woronesch

Um die nächste Phase seines Coups einzuleiten, teile Prigoschin seine Truppen nun in zwei Gruppen. Die erste, deren Kommando er selbst innehatte, blieb in Rostow, um dort Quartier zu beziehen. Die zweite und deutlich besser ausgerüstete Formation marschierte auf Moskau. Geführt wurde sie von Dmitrij Utkin, einem ehemaligen Offizier des Militärgeheimdienstes GRU und Veteranen der Tschetschenienkriege.

Unter Utkins Kommando drang die Gruppe Wagner rasch nach Norden vor. Ihr nächstes Ziel war Woronesch. Die Gebietshauptstadt liegt nur sechs Autostunden von Moskau entfernt. Die dortigen Vorbereitungen zur Verteidigung wirkten hektisch und schlecht organisiert. Wie schon in Rostow wurde die Hilflosigkeit des Regimes auf ganzer Linie deutlich. Bis auf notdürftig bewaffnete Einheiten von Nationalgarde und FSB konnte es keine Truppen aufbieten.

So nimmt nicht wunder, dass die Gegenwehr auch hier ausblieb. Die wenigen Versuche, den Vormarsch von Wagner aus der Luft zu stören, scheiterten. Innerhalb von kurzer Zeit hatten die Söldner mehrere Helikopter und Kampfjets abgeschossen. Auch die Bombenangriffe auf das Straßennetz erzielten keine Wirkung. Was blieb, waren Bemühungen, die Zufahrtsstraßen mit LKWs und aufgeschütteter Erde zu blockieren. All das ließ erkennen, dass die Regierung völlig blank dastand.

Der reibungslose Vormarsch von Wagner dürfte aber auch mit der Botschaft zu tun haben, die Jewgenij Prigoschin an seine Landsleute gesandt hat. Demnach wollte er dem russischen Volk die Gerechtigkeit zurückbringen. Sein hierzu angetretener Marsch sollte die korrupten Eliten in Politik und Verwaltung entmachten. Ihre Kreise klagte Prigoschin an, für den sinnlosen Tod tausender russischer Männer verantwortlich zu sein – ein Vorwurf, der zutreffend ist.

„Kriminelle Abenteurer auf dem Weg des schwersten Verbrechens“

Am 24. Juni 2023 schien Prigoschin zum Äußersten entschlossen. Er war zornig. Und er war bereit, sich selbst zu opfern. In einer der zahlreichen Audiobotschaften, die seit Beginn seines Feldzugs auf seinem Telegram-Kanal erschienen, erklärte er: „Wir sind bereit zu sterben! Alle 25.000 von uns sind bereit zu sterben.“ An Wladimir Putin gerichtet, drohte er: „Schon bald werden wir einen neuen Präsidenten haben.“

Damit war klar, dass der Wagner-Chef die Entscheidung getroffen hatte, die Zeichen auf eine neue Ordnung zu stellen. Einen Weg zurück konnte es nicht geben. Entweder würde er Putins Regime stürzen oder untergehen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, welches Ende der Putsch 12 Stunden später nehmen würde.

Obwohl Prigoschin in der Nacht auf den 24. Juni zunächst noch erklärt hatte, die Regierung und den Präsidenten im Amt zu belassen, sollte dieses Statement bereits wenig später obsolet werden. Dies wiederum hatte mit der Ansprache zu tun, in der sich Wladimir Putin zu den Vorgängen äußerte.

In einer fünfeinhalbminütigen Rede hatte sich der russische Präsident am Samstagmorgen an die Öffentlichkeit gewandt. Wegen der historischen Bedeutung der Ansprache gebe ich ihren Inhalt hier im Wortlaut wieder [Übersetzung Osthold]:

„Ich appelliere an die Bürger Russlands! An die Angehörigen der Streitkräfte, der Strafverfolgungsbehörden und der Sonderdienste! An die Soldaten und Kommandeure, die jetzt in ihren Stellungen kämpfen, die Angriffe des Feindes abwehren und dies heldenhaft tun! Ich wende mich auch an diejenigen, die durch Täuschung oder Drohungen in dieses kriminelle Abenteuer gelockt und auf den Weg des schwersten Verbrechens, der bewaffneten Meuterei, getrieben wurden!

Russland ficht heute einen schweren Kampf um seine Zukunft. Es wehrt die Aggression der Neonazis und ihrer Herren ab. Praktisch die gesamte Militär-, Wirtschafts- und Informationsmaschinerie des Westens ist gegen uns gerichtet. Wir kämpfen für das Leben und die Sicherheit unseres Volkes. Für unsere Souveränität und Unabhängigkeit. Für das Recht, Russland zu sein und zu bleiben – ein Staat mit einer tausendjährigen Geschichte.

Dieser Kampf, in dem sich das Schicksal unseres Volkes entscheidet, erfordert die Einheit aller Kräfte, erfordert Einigkeit, Konsolidierung und Verantwortung. Und zwar in einer Zeit, da alles beiseitegeschoben werden muss, was uns schwächt. Das gilt für jede Art von Zwietracht, die unsere äußeren Feinde nutzen, um uns von innen zu zersetzen.

Und so sind die Aktionen, die unsere Einheit spalten, im Grunde genommen ein Abfall von unserem Volk, von unseren Mitstreitern, die jetzt an der Front kämpfen. Es ist ein Dolchstoß, geführt in den Rücken unseres Landes und unseres Volkes.

Es ist exakt derselbe Schlag, der Russland bereits 1917 zugefügt wurde, als das Land den Ersten Weltkrieg führte. Damals wurde Russland um den Sieg betrogen. Intrigen, Streitereien und politische Machenschaften hinter dem Rücken der Armee und des Volkes führten zum ultimativen Schock, zur Zerschlagung der Armee und zum Zusammenbruch des Staates, zum Verlust riesiger Territorien. Das Ergebnis war die Tragödie des Bürgerkriegs.

Russen töteten Russen. Brüder töteten ihre Brüder. Und lukrativer Nutzen wurde von allen möglichen politischen Abenteurern und ausländischen Kräften geerntet, die das Land spalteten und auseinanderrissen. Wir werden nicht zulassen, dass sich so etwas wiederholt. Wir werden sowohl unser Volk als auch unsere Staatlichkeit vor allen Bedrohungen schützen. Auch gegen internen Verrat.

Und was wir nun erlebt haben, ist genau dieser Verrat. Übertriebener Ehrgeiz und Eigeninteressen haben zu Verrat geführt. Verrat an ihrem Land, an ihrem Volk und an der Sache, für die die Kämpfer und Kommandeure von Wagner an der Seite unserer regulären Einheiten gekämpft haben und gestorben sind.

Die Helden, die Soledar und Artemowsk sowie weitere Städte und Dörfer im Donbass befreit haben, kämpften und gaben ihr Leben für Neurussland, für die Einheit der russischen Welt. Ihr Name und ihr Ruhm wurden auch von denen verraten, die versuchen, einen Aufstand zu organisieren und das Land in Richtung Anarchie und Brudermord zu treiben – letztendlich in Richtung Niederlage und Kapitulation.

Ich wiederhole: Jeder innere Aufruhr ist eine tödliche Bedrohung für unsere Staatlichkeit, für uns als Nation. Es ist ein Schlag gegen Russland und unser Volk. Und unsere Maßnahmen zur Verteidigung des Vaterlandes gegen eine solche Bedrohung werden hart sein.

All diejenigen, die bewusst den Weg des Verrats eingeschlagen, die einen bewaffneten Aufstand vorbereitet, die den Weg der Erpressung und der Methoden des Terrorismus gewählt haben, werden die unvermeidliche Strafe erleiden. Sie werden sich sowohl vor dem Gesetz als auch vor unserem Volk verantworten müssen.

Unsere Streitkräfte und andere staatliche Stellen haben die erforderlichen Befehle erhalten. In Moskau, dem Moskauer Gebiet und einer Reihe anderer Regionen werden zusätzliche Antiterrormaßnahmen eingeleitet. Auch in Rostow am Don werden entschiedene Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage ergriffen. Sie ist nach wie vor kompliziert, da die Arbeit der zivilen und militärischen Behörden effektiv blockiert ist.

Als Präsident Russlands und Oberbefehlshaber, aber auch als russischer Staatsbürger, werde ich alles tun, um das Land zu verteidigen, um die verfassungsmäßige Ordnung, das Leben, die Sicherheit und die Freiheit seiner Bürger zu schützen.

Diejenigen, die den Militäraufstand organisiert und vorbereitet und die Waffen gegen ihre Mitstreiter erhoben haben, haben Russland verraten. Und sie werden dafür zur Rechenschaft gezogen werden.

Ich fordere diejenigen, die in dieses Verbrechen hineingezogen werden, auf, nicht denselben fatalen und tragischen Fehler zu begehen, sondern die einzig richtige Entscheidung zu treffen, sich nicht mehr an kriminellen Aktionen zu beteiligen.

Ich glaube, dass wir das, was uns lieb und heilig ist, bewahren und verteidigen werden, und gemeinsam mit unserem Vaterland werden wir alle Prüfungen überwinden und noch stärker werden.“

Die Putin-Rhetorik verfing nicht mehr.

Angesichts der dramatischen Lage war es verblüffend zu sehen, wie wenig Putin zu sagen hatte. Stattdessen argumentierte er, wie es viele Diktatoren vor ihm getan haben. So verklärte er die Revolte gegen sein Regime zum Schicksalskampf des russischen Volkes.

In früheren Zeiten noch hatte er das Publikum damit regelmäßig zu überzeugen vermocht. Vom einstigen Bann dieses Narrativs war jedoch nichts mehr zu sehen. Zu verbraucht, zu sinnentleert und zu farblos war es geworden. Die Rhetorik von gestern verfing nicht mehr. Kein Wunder also, dass den zwischenzeitlichen Besatzern von Rostow kein Hass, sondern die Sympathie der Bevölkerung entgegenschlug.

Auch am Nachmittag rückten die Truppen von Wagner weiter auf Moskau vor. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass auf den Moskauer Flughäfen reger Betrieb herrschte. Es waren die Privatjets des Establishments, die sich und ihre Kinder vor der heraufziehenden Katastrophe in Sicherheit brachten. Vielfach war in den sozialen Medien der hämische Kommentar „die Ratten verließen das sinkende Schiff“ zu lesen.

Bis zum Abend hatte sich die Situation weiter zugespitzt und die Notlage vertieft. Praktisch die gesamte Regierung sowie das Gros der Eliten aus Wirtschaft und Politik hatten sich mittlerweile aus Moskau abgesetzt. Wie im untergehenden Berlin des Mai 1945 soll die Stimmung von Fatalismus, Verzweiflung und Ratlosigkeit geprägt gewesen sein.

Die normale Bevölkerung indes bekam von all dem nur wenig mit und gab sich ganz der abendlichen Zerstreuung hin. Dass sich Wladimir Putin wohl als einer der ersten nach St. Petersburg verabschiedet hatte, konnte man dem Statement seines Pressesprechers Peskow entnehmen, wonach der Präsident konzentriert im Kreml arbeite. In Russland ist man es gewohnt, zwischen den Zeilen zu lesen.

Zynische Grabrede eines Staatsstreichs

Auf heißen Kohlen saß auch der für seine radikalen Äußerungen bekannte Dmitrij Medwedew. Als er seine Landsleute bei Telegram aufrief, die Feinde Russlands bis zum Äußersten zu bekämpfen, hatte er Familie und Entourage längst ausfliegen lassen.

Wieder einmal wurde deutlich, dass revolutionäre Staatskrisen trotz ihrer Verwerfungen auch etwas Gutes haben. Wie unter einem Brennglas bringen sie den Charakter der politischen Entscheidungsträger zum Vorschein.

Unterdessen ging der Vormarsch von Wagner ungebremst weiter. Dessen Truppenstärke war nun auf 50.000 Mann angewachsen. Zahlreiche Armeeeinheiten waren übergelaufen. Und sich vielfach in Videobotschaften zu Prigoschin bekannt. Nachdem alle Abwehrmaßnahmen der Regierung fehlgeschlagen und Moskau bereits zum Greifen nah war, erfolgte schließlich eine Wendung, die niemand hatte voraussehen können. Um 22:25 Uhr Moskauer Zeit veröffentlichte Jewgenij Prigoschin folgende Sprachnachricht:

„Die Gruppe Wagner soll demobilisiert werden. Am 23. Juni sind wir zum Marsch der Gerechtigkeit aufgebrochen. Innerhalb von 24 Stunden sind wir bis auf 200 Kilometer an Moskau herangerückt. Innerhalb dieser Zeit haben wir nicht einen einzigen Blutstropfen unserer Kämpfer vergossen. Nun jedoch ist der Moment gekommen, da Blut fließen kann. Der Verantwortung eingedenk, dass auf einer der beiden Seiten womöglich russischen Blut vergossen werden könnte, kehren wir unsere Kolonnen um begeben uns plangemäß in entgegensetze Richtung in unsere Feldlager.“

Die Ausführungen Prigoschins, bei denen es sich um das Ergebnis von Verhandlungen mit Alexander Lukaschenko handelt, sind von welthistorischer Bedeutung. Sie werden einst als die zynische Grabrede eines Staatsstreiches in die Geschichte eingehen, der zum Zeitpunkt seines Abbruchs bereits geglückt war. Was bleibt, ist ein bitterer Abgesang auf die kurzzeitig aufschimmernde Hoffnung, eine bis ins Mark korrumpierte Diktatur und den von ihr begonnen Krieg zu beenden.

Wie ein Todesurteil für tausende russischer Soldaten

Kaum eine Figur dürfte dabei in ähnlich ambivalenter Weise Erinnerung bleiben wie Jewgenij Prigoschin. Seine Kehrtwende hat er damit begründet, russische Leben retten zu wollen. Dabei handelt es sich um einen trügerischen Schein. Sieht man nämlich genauer hin, wird die fatale Konsequenz seiner Handlung deutlich.

So hat Prigoschin mit der Entscheidung zum Rückzug der Fortsetzung von Wladimir Putins destruktiver Agenda den Weg bereitet. Für tausende russische Soldaten kommt das einem Todesurteil gleich. Prigoschin ist damit nicht zum Erlöser, sondern zum Totengräber seines Volkes geworden. Seit dem vergangenen Wochenende trägt er die Verantwortung dafür, dass der Krieg in der Ukraine und das mit ihm verbundene Massensterben unvermindert weitergehen werden.

Die revolutionäre Staatskrise des 23. und 24. Juni 2023 dürfte vermutlich die letzte Chance auf eine vorzeitige Beendigung des Krieges gewesen sein. Da diese Gelegenheit nun vertan ist, lässt sich das zurückliegende Geschehen nur noch als ein Wink des Schicksals deuten – eines Schicksals, das eine unmissverständliche Botschaft für das russische Volk bereithält.

Sie lautet: „Der Verantwortung für den in Deinem Namen geführten Krieg wirst Du Dich nicht entziehen.“

 

Christian Osthold ist Historiker und als Experte für Tschetschenien und den Islamismus tätig. Darüber hinaus befasst er sich mit islamisch geprägter Migration sowie dem Verhältnis der Politik zum institutionalisierten Islam in Deutschland.

Foto: Imago

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Max Weber / 26.06.2023

Was, wenn das alles eine Inszenierung von Putin und Prigoschin war um zu verschleiern, dass die Gruppe Wagner jetzt in Belarus und damit näher an Kiew ist?  Schließlich ist Prigoschin auch nicht lebensmüde und begibt sich freiwillig in die Hand eines Mannes, der der Kettenhund von Putin ist.

STeve Acker / 26.06.2023

Also, zu meinen dass Prigoschin mit dieser Aktion Erfolg haben könnte, und dann noch den Frieden bringen würde, ist wirklich höchst abenteuerlich.

sybille eden / 26.06.2023

Manfred WERNER, - sie kennen die WAHRHEIT ???  Ist ja sagenhaft.

Burkhard Mundt / 26.06.2023

Was sagt die stramme Frau Strack-Zimmermann zu diesem Video ?

Peer Doerrer / 26.06.2023

Auch wenn im Taumel des weltrevolutionären “Putsches ” die Glücksgefühle überkochen ,hätte ich in meinem Text bei 27 Millionen toter Russen des zweiten Weltkrieges auf die ausschmückende Darstellung der Massakrierung der Russen im Schützengaben verzichtet. Wieder wird nur eine Seite der Medaille beleuchtet ,obwohl täglich jungen Menschen auf beiden Seiten sterben . Die Medien in Deutschland sind im Jubelrausch , vergessen die ausgebrannten Leos auf dem Schlachtfeld , auch das die Großoffensive bis jetzt nur ein paar Dörfer zurückgebracht hat , verschwindet im Nebel der Spekulationen. Wieder wach werden, wird man wahrscheinlich erst , wenn der Belzebub mit seiner Söldner - Truppe von Weißrussland aus auf Kiew losmaschiert und sich die Ukraine in einem Zweifronten - Krieg befindet. Aber bis jetzt regieren Glauben und nicht Wissen.

S.Buch / 26.06.2023

Das Putsch-Narrativ lassen wir mal beiseite und konzentrieren uns auf das Faktische: „In den dortigen Schützengräben führen ukrainische und russische Soldaten einen erbitterten Überlebenskampf.“ —> Ist das nicht genau das strategische Kriegsziel der transatlantischen Kriegstreiber, also des „Werte-Westens“?

Gerd Maar / 26.06.2023

Nun da der Koch mit seiner Knackitruppe verschwunden ist, müssen junge Rekruten den antifaschistischen Schutzwall bemannen. Wenn die solche Videos sehen, wird die Begeisterung fürs Vaterland zu sterben wohl eher lau sein.

Gunter Zimmemann / 26.06.2023

Es ist leider wie immer mit den meisten Kommentaren, ja nicht sehen, was wirklich los ist. Jedem Einsichtigen ist klar, dass Russland diesen Krieg längst verloen hat und Tausende, vielleicht sogar Hunderttausende der sinnlosen Obsession eines unfähigen Politikers geopfert werden. Prigoschin hat wohl auch die Inkompetenz der obersten russischen Militärs erkannt, aber kaum das richtige Heilmittel gefunden.

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