Fundstück / 03.12.2009 / 21:55 / 0 / Seite ausdrucken

Ein Brief an Sebastian Edathy

Sehr geehrter Herr Abgeordneter,

mein Schweizer Freund, Herr Urs Schmidlin, hat mir seinen mail-Wechsel mit Ihnen zur Kenntnis gebracht. Ich empfinde Ihre Reaktion gelinde gesagt ziemlich arrogant, doch entspricht sie damit grundsätzlich dem Verhalten vieler Deutscher dem kleinen Nachbarn Schweiz gegenüber und passt insofern ins Bild. Das ist nicht neu. 

Mich beschwert allerdings, dass Sie die demokratische Entscheidung des Schweizervolks, einer uralten Demokratie, zu einer Verletzung der Menschenrechte erklären. So einfach ist das nicht: es gibt ein Menschenrecht auf freie Religionsausübung, aber es gibt nicht das Recht auf den Bau von Minaretten. Bekanntlich ist in unserem Land das sog. Kruzifix-Urteil gefällt worden, das ebenfalls die Grenzen religiöser Symbolik festgelegt hat. Es gibt also kein Recht auf Kruzifixe im Klassenzimmer oder im Gerichtssaal. Das war mal anders, ist aber im Zuge der Veränderung unserer Gesellschaft zu Recht so entschieden worden. Die gewohnte Religionsausübung der christlichen Mehrheit in unserem Land ist m.E. dadurch eingeschränkt worden, doch für diese Einschränkung gibt es gute Gründe. Ich akzeptiere sie (als Christ und Theologieprofessor).

Freilich ging es wohl gar nicht um Minarette oder um freie Religionsausübung, die in der Schweiz ebenso wenig gefährdet ist wie in unserem Land (ich kenne allerdings viele Länder, in denen weder die freie Religionsausübung noch die Menschenrechte gelten; haben Sie sich dazu schon geäußert? Ich weiß es wirklich nicht und will Ihnen da auch nichts unterstellen). Es ging wohl auch um Ängste der Menschen, um Probleme der Integration etc.

Ich hoffe sehr, dass Sie Ihre Meinung über die (mangelnde) Übereinstimmung des Schweizer Volksentscheids mit den Menschenrechten noch einmal überdenken. Ich gestehe, dass ich mich seit langem nicht mehr so unwohl gefühlt habe als Deutscher wie in den letzten Tagen. Da kann man ja dankbar sein für die Ausfälle des türkischen Ministerpräsidenten, der dann doch die Reaktionen der deutschen PolitkerInnen harmlos aussehen läßt. Haben Sie sich zu den Äußerungen von Herrn Erdogan öffentlich geäußert?  Verzeihen Sie, dass ich dies nicht weiß, aber es wäre mir wichtig, wenn Sie mir Ihre Meinung dazu schreiben bzw. mitteilen lassen.

Ich bin ein alter und notorischer SPD-Wähler und SPD-Anhänger. Der Absturz der SPD bei der letzten Bundestagswahl war für mich ein Schock. Ich habe viel darüber nachgedacht, was die Gründe dafür sein können (Hartz 4, Rente mit 67 usw.). Ich habe jetzt - für mich jedenfalls! - eine (Teil-)Erklärung gefunden. Sie - die SPD insgesamt - interessieren sich offensichtlich überhaupt nicht mehr dafür, was die Menschen in diesem Land beschäftigt! Welche Ängste und Nöte sie haben. Herr Bosbach, nicht gerade mein liebster Politiker, ist einer der wenigen, die überhaupt das Wählervotum der Schweizer ernst genommen haben.  Und - damit wir uns recht verstehen: Es geht nicht darum, dass Sie oder die SPD die Entscheidung des Schweizervolks bestätigen oder gutheißen. Es ginge mir darum, dass Sie - bzw. die SPD - überhaupt einmal die Frage stellen: Warum haben die Schweizer mehrheitlich so entschieden? Warum scheint es auch in unserem Land viele Menschen zu geben, die diese Entscheidung gutheißen und genauso entschieden hätten, wenn Sie dürften.

Michel Foucault hat in seinem brillanten Aufsatz zur Aufklärung darauf hingewiesen, dass das politsche Thema der Aufklärung durch Kant leider nicht dezidiert genug zur Sprache gekommen ist. Es lautet: Wir wollen nicht (mehr) so regiert werden! Ich sehe in dem Votum der Schweizer dieses Motiv. Sie wollen nicht mehr so regiert werden, sie wollen, dass ihre politschen RepäsentantInnen sie ernst nehmen, ihre Sorgen und Ängste. Sie müssen diese nicht affirmieren, aber wenigstens ernst nehmen. Und ich vermute, dass die SPD, wenn sie diesem Rate folgen würde, deutlich mehr Rückhalt in der Bevölkerung hätte als jetzt. Wir wär’s damit: das Volk ernst zu nehmen! 

Ich bin übrigens gegen das Verbot von Minaretten. 

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang Stegemann

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