Mein Italiener hat schon wieder „dottore“ zu mir gesagt. Als anständigen Deutschen verwirrt mich das. Mache ich mich durch stillschweigende Hinnahme des unverdienten Titels zu einem kleinen Guttenberg? Bin ich durch die wiederholte Akzeptanz des Titels womöglich verpflichtet, nachträglich zu versuchen, „meinen Doktor“ zu machen? Und was ist in dem höchstwahrscheinlichen Fall, dass ich ihn nicht schaffe? Muss ich dann wegen erwiesenen Nichtdoktorentums den nächsten „dottore“ energisch zurückweisen? Selbst auf die Gefahr hin, dass der nette Italiener mich dann für einen typischen überstrengen Deutschen hält und mir nur noch weichgekochte Nudeln serviert? Nie wieder al dente?
Das Leben als Deutscher kann so schwer sein. Die Seriosität ist zuweilen niederdrückend. Die Solidität kann einem wie Blei an den Füßen kleben. Warum können wir das Leben nicht so leicht nehmen wie die Italiener? Die Griechen? Die Spanier? Die Franzosen? Die Österreicher? Also praktisch alle anderen? Falls der Verdacht aufkommt: Ich spreche in dieser Betrachtung nicht von den Staatsschulden, sondern von unserem Nationalcharakter. Gibt es so was überhaupt? Ja und nein. Wir Deutsche sind untereinander ziemlich verschieden. Aber auf einen Ausländer wirken wir trotzdem alle ziemlich deutsch. Alles eine Frage der Perspektive.
Und hier die nächste Frage: Sind wir Deutsche wirklich noch so streng? Für unsere Verhältnisse sicher nicht. Wir sind – sehen wir mal vom Doktor ab – schon viel lockerer geworden als wir mal waren. Früher hieß deutsch sein noch, gehorchen und die Hacken zusammenschlagen wie im Billy-Wilder-Film „Eins, zwei, drei“, in dem James Cagney so wunderschön „sitzen machen!“ ruft. Und zum Lachen sind wir – so scheint es - damals in den Luftschutzkeller gegangen.
Im Vergleich dazu haben wir eine erstaunliche Auflockerung erlebt. Das deutsche Fernsehen hat das englische in der Comedy-Quote längst überholt. Eine englische Umfrage hat vor einiger Zeit sogar ergeben, dass wir Deutsche mehr lachen als die Engländer, was dort als nationale Beleidigung und als Ding der Unmöglichkeit aufgenommen wurde. Dass wir selbst in den Sitzenmachen-Jahren schon einen Heinz Erhard hatten, wissen sie sowieso nicht. Wenn man sich den heute anschaut, könnte man glatt meinen, dass wir Deutsche nie so humorlos waren wie unser Ruf.
Aber mit dem Doktor ist es uns so ernst wie eh und je. Das ist im Grunde ja auch gut so. Ein bisschen Ernst muss sein, um einen singenden Spaßvogel zu paraphrasieren. Trotzdem habe ich mich entschlossen, meinem netten Italiener nicht in die Parade zu fahren, wenn er mich das nächste Mal „dottore“ nennt. Ich werde es tragen wie ein Österreicher, selbst auf die Gefahr hin, dass ich in deutschen Augen wie ein Hallodri ausschaue. Das sind mir meine Al-Dente-Nudeln wert.