Burkhard Müller-Ullrich / 05.09.2010 / 23:08 / 0 / Seite ausdrucken

Diskurslogik

Wenn irgendjemand irgendeine Behauptung aufstellt, dann können sich zwei unterschiedliche Debatten daran anschließen; bei der einen geht es darum, ob die Behauptung stimmt, bei der anderen, was daraus folgt und aufgrund welcher Motive die Behauptung aufgestellt wurde. Im einen Fall geht es um Wahrheit, im anderen um Wirkung. Die beiden Gebiete können sich zwar berühren, aber sie müssen es nicht. Deshalb gehört es zu den Grundregeln der Diskurslogik, daß man Wahrheit und Wirkung nicht vermischt, sondern getrennt betrachtet.

Diskurslogik ist etwas, das man im Alltagsleben ständig braucht. Denn als hochkomplexe Wesen in einer hochkomplexen Welt laufen wir ständig Gefahr, peinliche, ärgerliche oder gefährliche Mißverständnisse zu produzieren. Die Eskalation eines Ehekrachs ist meist ein ohrenbetäubendes Beispiel für den Zusammenbruch der Diskurslogik; da paßt kein Argument aufs andere, sondern unter dem Druck der Emotionen suhlt sich jeder in der Sinnlosigkeit seiner Beschimpfungen.

Systematische Sinnlosigkeit kennzeichnet auch zunehmend die öffentliche Kommunikation in Deutschland. Die politischen Protuberanzen im Fall Sarrazin tragen das allesamt das Zeichen organisierter Alogik. Wenn jemand sagt: ‚Kinder sind dümmer als Erwachsene‘, dann hat er nicht gesagt, Schulen seien sinnlos und gehörten abgeschafft, er hat auch nicht zum Kindermord aufgerufen und er hat genausowenig den Präsidenten des Kinderschutzbundes beleidigt. Von dieser Art aber ist die Reaktionsstruktur sowohl des Medien- als auch des Regierungsbetriebs.

Nun hat Sarrazin bekanntlich etwas anderes gesagt, als er die wachsende, nicht arbeitende, sondern von Sozialhilfe lebende und diesen Sozialhilfestaat zutiefst verachtende Unterschicht etwas präziser charakterisierte, als gemeinhin üblich. Dabei ist es zunächst einmal völlig egal, ob die Negativmerkmale in den bildungsfernen, integrationsresistenten, kinderreichen muslimischen Familien genetisch oder kulturell bedingt sind – generationenübergreifend weitergegeben werden sie jedenfalls.

Sarrazins Bemerkung über genetische Gemeinsamkeiten der Juden lösten vor allem deshalb einen solchen Sturm aus, weil sie etwas fahrig und sogar fahrlässig war. Das heißt, hier konnte man mit wissenschaftlichen Korrekturen hineingrätschen, ohne sich im Mindesten mit dem eigentlichen Argument beschäftigen zu müssen. Unser Außenminister brachte es sogar fertig, dem Philosemiten Sarrazin, der Juden für klüger hält als andere Völkerschaften, Antisemitismus nachzusagen. Gewiß haben Philosemitismus und Antisemitismus etwas gemeinsam, doch der erstere war bis jetzt weniger tödlich.

Wenn Michel Friedman behauptet, Sarrazin habe ganzen Bevölkerungsgruppen intellektuelle Entwicklungsmöglichkeiten abgesprochen, dann offenbart sich ein typischer Diskurslogikdefekt. Es geht nämlich nicht darum, irgendjemandem etwas abzusprechen, sondern festzustellen, wie etwas ist. Aber es gehört zur idealistischen Philosophietradition in Deutschland, daß man gerne gegen Fakten protestiert.

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