Gastautor / 13.01.2019 / 10:00 / Foto: David Hall / 0 / Seite ausdrucken

„Die Tagesschau darfst Du noch gucken…“

Von Marcel-André Michel.

„Die Tagesschau darfst Du noch gucken...“. In genau diesem Wortlaut begann meine Laufbahn als politisch Berieselter im Alter von zehn Jahren, auf einem Ausziehsofa im Obergeschoss meines elterlichen Willy-Brandt-Hauses, oberirdisch des saarländischen Kohlerückens in der Nähe von Saarbrücken. Der schallende Gong der 80er-Jahre-Tagesschau läutete nicht nur eine durch meinen Vater verordnete politische Bildung durch den Flimmerkasten ein, sondern zeigte mir auch auf, dass der liebliche Tag in einer Viertelstunde die Lichter löschte.

Wie viele meiner männlichen Gattung stand ich mit zehn Jahren kurz vor der Pubertät und zeigte damals eher Interesse an Dagmar Berghoffs variierenden Frisuren und ihrem historischen Versprecher bezüglich des Tennis-"WC-Turniers" in Dallas als an den tatsächlichen Neuigkeiten aus Deutschland und der Welt.

Und um an dieser Stelle einen kleinen Bogen zu der heutigen Berichterstattung zu schlagen, möchte ich anmerken, dass mir die etwas steife Frau Berghoff in ihrer damals sachlichen und neutralen Art wesentlich besser gefallen hat als die heutigen männlichen Sprechpuppen der etablierten Nachrichtensender, welche politisch nur in eine Richtung vom Sessel fallen und nach dem sexistischen Vorgespräch zur täglichen Klimalüge mit der suboptimal verschönerten Wetterfee diese am liebsten vor der Kamera anhüpfen würden.

Aber dies nur am Rande. Was war das denn nun damals in meiner Jugend? Lief die Zeit langsamer oder sind es nur vergilbte Erinnerungen, die faktisch nicht mehr verifizierbar sind. Nahmen meine Eltern das durch die drei empfangbaren Kanäle gesprochene Nachrichtenwort für bare Münze oder hinterfragten sie die Themen? Und vor allen Dingen, welche Direktion gaben sie uns?

Vom SPIEGEL indoktriniert

In meinem Elternhaus hängt eine schwarz-weiße Fotografie an der Wand. Sie zeigt meinen Vater in den 60er Jahren mit seinem Kumpel Oskar, den SPIEGEL in der einen und die Fahne der Jungsozialisten in der anderen, auf eine saarländische Klinik zumarschierend, um für sozialere Arbeitsbedingungen der Krankenschwestern zu demonstrieren. Die Antwort auf die Frage, ob er dies aus politischer Überzeugung oder vor dem Hintergrund der Tätigkeit meiner Mutter als Krankenschwester getan hat, steht bis heute aus. Er sammelt bis heute nicht nur Punkte bei REWE.

Er las den SPIEGEL, oh wie hingebungsvoll gab er sich seiner Bibel hin. Woche für Woche. Das Teil sah einen Tag vor der neuen Auflage aus, als hätte es in Verdun zu anderen Dingen als zum Lesen gedient, und der frühmorgendliche Gang zum Kiosk war gelebte Folklore. Verknittert und mit Kaffeeflecken versehen, ruhte das Journal, nachdem alle Artikel mehrfach akribisch ausgewertet worden waren, wie die anderen bis heute 12,4 Millionen angesammelten Exemplare der vergangenen 50 Jahre auf dem elterlichen Dachboden in einer hermetisch luftdichten Kiste – bereit zur Übergabe an die Söhne. Auf dass bei der Aufteilung kein Streit entstehe und die Deckenbalken den Linksdruck vertragen. Hossa.

Er war, ist und wird es immer bleiben. Indoktriniert, im Vergleich zu der Zeit um 2000 mit eingeschränkter Diversität. Ein hoch gebildeter und in höherer Beamtenfunktion tätiger Mann, nunmehr Mitte der Siebzig, der diesen damals gesetzten Samen, welcher in ihm eine dicke rote Rose entwickelte, nie wieder los wird. Um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen: Seine Kinder lieben bis heute die alte, rote Socke, aber Papas Sozen wurden älter, entkamen dem Alter, in welchem sie mit Dagmars Haaren zu Bett gingen und entwickelten eigene Meinungen. 

Schwarz war im Elternhaus bäh, grün die Vorstufe zum Schlechtwerden und alles Gelbe zeugte von Krankheit. Väterliche Doktrin in Reinkultur. Wir hatten damals nicht die Möglichkeit, Dinge, die Paps über Adenauer oder später den dicken Onkel aus Oggersheim erzählte in ihrer Richtigkeit zu bestätigen oder zu widerlegen. Bei uns gab es Dagmar, des Vaters Bibel mit circa 50 Seiten und den stets über allem schwebenden Helmut mit seinem Willi. Dat war’s.

Wie Alice im Wunderland

Ende der 80er begann mein Berufsleben. Die politische Bildung bestand zu dieser Zeit aus einem 68er-Dozenten mit Jutebeutel, runder Nickelbrille und zerzausten Haaren. Es war Papa, nur ohne Fahne. Und es ging weiter im Text. Die Jahre vergingen, mein Bruder und ich wurden beruflich getrennt und wurden, im goldenen Lernzeitalter Jungerwachsener, in verschiedene politische Lager fernab der väterlichen getrieben und erwachten aus einer langen „papaischen“ Anästhesie, die jeden Grizzly in seiner arktischen Höhle alt aussehen ließ.

Mit etwa 28 Lebensjahren, ehelich bis heute fest gebunden und die Kinder unterwegs, legte ich des Vaters politische Maxime ab und machte den Geist frei für Neues. Dem Weidekörbchen des Nils entkommen, prasselte eine Welt der Information auf mich hernieder, dass mir Hören und Sehen verging. Ich liebte diese journalistische Vielfalt, das Abgleichen von Meinungen, die verschiedensten Thesen, den oftmals respektvollen Umgang mit differierenden Meinungen und die damals noch betörend neutralen Newscasters. Es gab plötzlich so viele Dagmars, mehr als drei Fernsehkanäle und politische Journale mit weniger als 50 Seiten.

Endlich war ich gedanklich frei, konnte mich politisch nach meinem Geschmack orientieren und die Glaubensrichtung meines Vaters ablegen, vollkommen gleichgültig, ob diese in ihrem Bestand berechtigt war oder nicht. Das Gefühl war fundamental mit Alice zu vergleichen, die mit ihrem Schmetterlingsnetz hüpfend durch ihr Wunderland lief. Und warum? Einfach vor dem Hintergrund, dass viele unabhängige Quellen studiert werden konnten.

Diese Wahrnehmung hat sich seit etwa vier Jahren erkennbar verändert. Ich stelle mir die Frage, woran es liegt, dass ich mich langsam aber sicher wieder auf dem Ausziehsofa sehe, vor der Kälte geschützt durch eine wollende SPD-Decke, zusätzlich gehüllt in die Weltansicht meines Vaters.

Der rautenförmige Riss

Es spielt eigentlich keine Rolle, welches Medium ich heuer zu meiner Information öffne. Nicht der politische Geist meines Vaters blickt mir aus Zeitung, Internetportalen oder Nachrichtsendern stetig reflektierend in’s Gesicht, sondern die mir bekannte Form der Explikation. Wo ist die von mir geliebte Vielfalt der Berichterstattung geblieben? Warum kann ich zwischen n24, n-tv, den öffentlich-rechtlichen oder privaten Sendern umherschalten und den dortigen Vorortreporter ohne sachliche Differenz durch den Journalisten im nächsten Kanal ersetzen? Wieso schlage ich eine etablierte Zeitung auf und kann maximal an der Papierart und Größe erkennen, um welches Blatt es sich handelt? 

Diese Gleichschaltung der Informationsquellen, nehmen wir Achgut und andere neue Alternativen aus, stellt eine maximale Gefahr für den Erhalt unserer Gesellschaft dar, und eine Beschädigung in Form eines rautenförmigen Risses durchzieht bereits unsere Heimat. Eine Gesellschaft profitiert stets von einem Assortiment verschiedenster leidenschaftlich vertretener Meinungen. Und diese Umsetzung lernt man nicht in 15 Minuten ab 20 Uhr.

Der Autor wurde 1971 in Paris geboren. Musiker mit Studium der modernen Musik. Familienvater. Lebt in Frankreich. 

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