Gastautor / 16.11.2014 / 07:00 / 0 / Seite ausdrucken

Die Straße als Leistungsträger: Krise der Infrastruktur (Teil II)

Von Gerd Held

Was tut eigentlich eine Straße? Sie hat etwas mit der Fortbewegung von Menschen und Gütern zu tun. Wir sind es gewohnt, beim Verkehr auf die Fahrzeugführer und Fahrzeuge zu achten, aber deren Aktion wäre völlig hilflos ohne die Mitwirkung der tragenden Unterlage eines befestigten Verkehrswegs. Eine Straße ist da, um die Gegebenheiten eines Geländes zu befestigen, zu glätten, abzugrenzen und auch lesbar zu machen. Die Natur enthält alle möglichen Widrigkeiten: Bodenbeschaffenheit, Steigungen, Wettereinflüsse, Unübersichtlichkeit. Sie ist nicht von vornherein auf Mobilität angelegt. Im Alltag fällt dieser Sachverhalt kaum auf. Erst bei einem Ausfall, zum Beispiel bei Fahrbahnschäden oder Überflutungen, wird das anders. Dann machen sich die Naturkräfte bemerkbar und die erhebliche Leistung der Infrastruktur wird sichtbar. Es ist vor allem eine Tragleistung, die zwischen Boden und Fahrzeug vermittelt und die dort sinnfällig wird, wo Brücken mit ihren Pfeilern, Stahltrossen und Fahrbahnkästen stehen. Hinzu kommt der „Griff“, den die Fahrbahnoberfläche ausübt und die Fahrzeuge überhaupt erst steuerbar macht. So vermittelt die Straße zwischen den Gegebenheiten der natürlichen Umwelt und der modernen Mobilität.

Der Ausdruck „Infrastruktur“ klingt trocken und abstrakt, und daran ist etwas Wahres. Denn sie ist der Lebenswelt der Menschen und auch dem wirtschaftlichen und politischen Leben vorgelagert. Selten stellt eine Straße als solche ein Erlebnis dar, meistens ist sie nur eine zu überwindende Strecke. Deshalb zehren auch die Reportagen über große Straßen davon, dass der Berichtende immer wieder aussteigt und einzelne Orte oder Menschen besucht. Und doch ist die Stabilität des „Dazwischen“ der Straße so wichtig wie die Stabilität einer Währung, auch wenn – in beiden Fällen - ihre positive Wirkung indirekt ist und nur schwer zu messen. Ähnliches gilt im Bezug zur natürlichen Umwelt. Das graue, monotone, abweisend harte Asphaltband ist kein naturnahes Gebilde. Um ihre Leistung zu erbringen, müssen Infrastrukturen die Natur durchschneiden, die Böden versiegeln, Flora und Fauna – horribile dictu -  „ausgrenzen“. Die Belastung der menschlichen Anlieger gehört auch dazu.

Doch kommt diese unfreundliche Fremdheit nicht erst mit der Straße in die Welt. Sie ist schon in der gesteigerten Mobilität der Menschen angelegt, letztlich in ihren modernen Freiheitsrechten. Naturfern sind schon die menschlichen Berufs- und Lebensziele oder die komplex zusammengesetzten Güter für den gesellschaftlichen Bedarf. In diesem Sinn muss man die Verkehrsstatistiken ernst nehmen: Nach der jüngsten Prognose des Bundesverkehrsministeriums wird zum Beispiel das Güterverkehrsaufkommen auf der Straße 2014 um 4% wachsen, 2015 um 2,7% - also stärker als das Bruttoinlandsprodukt. Solche Zahlen belegen auch, dass trotz Internet keine „Entmaterialisierung“ der sozialen Bedürfnisse stattfindet. Die menschliche Freiheit kann sich nicht nur in Worten, Bildern und digitalen Kommandos verwirklichen. 

Gegenüber einer allzu freischwebenden Freiheit des Menschen bildet die Straße sogar ein mäßigendes Element. Als Bauwerk bringt sie die physischen Gesetze der realen Welt in Anschlag – zum Beispiel im aufwendigen Schichten-Aufbau der Fahrbahn und in der ständigen Abwehrarbeit gegen Verschleißerscheinungen. Die Straße erdet die Mobilität, sie ist die hardware der menschlichen Freiheit. Sie holt die Wünsche und Phantasien auf den Boden der Tatsachen zurück. Dies zeigt sich auch in der besonderen Zeichenwelt der Straße. Es ist eine Welt strikter Gebote und Verbote. Verkehrszeichen sind weder interpretierbar noch interaktiv. Die disziplinierende Welt der Fahrbahn ist keine „soziale Konstruktion“ und frei verhandelbar, aus ihren Kurvenradien, Spurbreiten, Markierungen, Rechtsfahrgeboten und Geschwindigkeitsbegrenzungen sprechen die Gesetze von Schwerkraft und Massenträgheit. Ihre Macht ist ein klassischer Fall von moderner Sachautorität.

Insgesamt ist eine Straße also immer die Frucht einer doppelten Anpassung: Sie passt die Widrigkeiten der Natur an die Mobilität des Menschen an, aber sie passt auch die Willkür des Menschen an die äußere Realität an. Sie ist Vermittlung zweier Seiten – eine gebaute Mitte. 
 
Was hier für die Straßen gesagt wurde, gilt für die Verkehrs- und Versorgungssysteme insgesamt, also für das, was mit dem Begriff „technische Infrastruktur“ zusammengefasst wird. Erst mit der Moderne bekommen die einzelnen Anlagen systematischen Charakter. Sie werden zu einer flächendeckenden Gesamtstruktur, zu einer aus dem Naturraum herausgebauten Plattform - einer Plattform, die die landschaftlichen Naturkräfte beruhigt und vergleichmäßigt, sie aber auch dynamisiert und bündelt. Erst dadurch entsteht das „Land“ im modernen Sinn, das Territorium. Infrastrukturen bilden sein Rückrat. Diese Mitte des Landes ist für Wirtschaft und Staat mindestens so wichtig wie die oft zitierte Mitte der Gesellschaft. In der Geschichte der Neuzeit bildet die Lösung von Infrastrukturproblemen ein großes, oft unterschätztes Tätigkeitsfeld. In Frankreich war es der systematische Straßenbau, der mit dem „corps des ponts et chaussées“ einen festen, im ganzen Land operierenden technischen Beamtenstab hervorbrachte. In England spielten der Kanalbau und die Bildung regionaler und marktorientierter Konsortien früh eine Rolle.

Planung, Bau und Betrieb von Infrastrukturen stellte die Akteure vor komplexe Probleme, die im Rahmen einer einfachen Rollenzuschreibung nicht zu lösen waren. Der Bau eines flächendeckenden Straßennetzes wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, wenn „alle Straßen“ Sache des Königs gewesen wären. Man musste eine Rangunterscheidung zwischen nationalen und lokalen Straßen einführen. Mit dem erhöhten technischen Aufwand musste eine Ausdünnung der Zentralaufgaben stattfinden. „Mehr Staat“ musste zugleich „weniger Staat“ werden. Zugleich musste der Staat sich in einem ganz neuen Maß in Sachfragen bewähren und sich Facheliten öffnen. Im englischen Fall, der stärker am Markt orientiert war, gab es eine andere kritische Schwelle. Hier mussten einzelne private bzw. regionale Akteure sich für Aufgaben zusammenfinden, die ihren Eigennutzen überstiegen – zum Beispiel bei der Festlegung der Streckenführung und des Größenzuschnitts. 

Neben technischen Aufgaben stellten sich auch neuartige rechtliche Aufgaben. Weil die effiziente Anordnung im Raum vielfach mit bestehenden Eigentumsrechten kollidierte, mussten rechtsstaatliche Enteignungsverfahren gefunden werden. Zum anderen musste aber auch ein besonderer Rechtsstatus eingeführt werden, damit die neuen Gemeingüter nicht durch Zerstörung oder Blockade von Minderheiten in Beschlag genommen wurden. So war es historisch nicht nur die Einhegung des (Bürger-)Krieges, sondern auch die Entwicklung der Infrastruktur, die zur Bildung einer übergreifenden „Leviathan“-Macht im Sinne von Thomas Hobbes führte.

Ein drittes Grundproblem gab es bei der Finanzierung. Mit den Infrastrukturen mussten große Geldmittel vorausschauend und langfristig bereitgestellt werden. Das war ohne einen festen Haushaltsposten nicht darstellbar und bildete einen starken Anstoß zur Etablierung eines geordneten Staatsbudgets. Das Finanzproblem gab es auch im „englischen“ Szenario. Hier mussten Formen entwickelt werden, in den private Akteure langfristig Kapital einsetzen konnten. Der Infrastrukturbau erforderte also die Überschreitung einer allzu engen Definition von Privatinteresse und eine Erweiterung der Marktmechanismen.
Insgesamt kann man – in technischer, rechtlicher und finanzieller Hinsicht - konstatieren, dass diese Weiterentwicklung von Staat und Marktwirtschaft gelang. Grundlagen waren schon vor dem Beginn des Eisenbahnzeitalters gelegt. Nur so waren dann später auch die Bauleistungen der Gründerzeit, mit denen das Stadtelend eingehegt wurde, möglich. Wären Staat und Markt wirklich von den Zerrbildern „absoluter Herrscher“ und „egoistischer Kapitalisten“ geprägt gewesen, wären sie an der historischen Schwelle des Infrastrukturbaus gescheitert. Das ist nicht der Fall. Diese Geschichte ist ein gelungenes Kapitel der Moderne und wird meistens von ihren radikalen Kritikern ignoriert. Für unsere Gegenwart bedeutet das, dass wesentliche Probleme des komplexen Baus, des nachhaltigen Betriebs und der soliden Finanzierung historisch schon gelöst sind. Diese Mitte des Landes ist etabliert. Sie muss nicht erst für angeblich „völlig neue“ Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfunden werden. Die Länder, in denen heute die Infrastruktur stagniert oder verwahrlost, machen schlicht ihre Hausaufgaben nicht. 

In der abschließenden dritten Folge der Artikelserie wird erörtert, wie diese Mitte eines modernen Landes aus dem öffentlichen Bewusstsein und der politischen Agenda verdrängt werden konnte.


(Dr. Gerd Held ist Privatdozent am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin. Mehr zur Geschichte und Logik der technischen Infrastruktur findet sich in Gerd Held, Territorium und Großstadt – Die räumliche Differenzierung der Moderne, Wiesbaden 2005). Bestellmöglichkeit hier.

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