Vince Ebert / 09.09.2011 / 21:05 / 0 / Seite ausdrucken

Die Renaissance des Couch-Potato

Nach einer Studie der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen sind wir Deutschen ein Volk von passiven Stubenhockern. Rumsitzen und Nichtstun als Freizeitbeschäftigung ist der Megatrend der letzten Jahre. Während der Chinese nach Feierabend emsig Sprachen lernt, Staudämme baut oder giftige Chemikalien in Kinderspielzeug schmuggelt, hockt der Deutsche nur stuff vor dem Fernseher und glotzt.

Jeder vierte Bundesbürger leidet sogar massiv unter zu viel Freizeit. Und die macht müde und träge. Einzige Ausnahme: Berlin. Dort überwinden die jungen Leute ihren inneren Schweinehund, gehen auf die Straße und werfen Steine oder fackeln Autos ab.

Durch die Vielzahl von Konsum- und ­Medienangeboten wächst offenbar die Sehnsucht nach Ruhe“ so die Interpretation der Hamburger Forscher. In der Verkaufspsychologie ist dieser Effekt unter dem Begriff Marmeladenglasprinzip bekannt: Je mehr Marmeladensorten im Regal zu finden sind, desto seltener greift der Kunde zu.

Was ist nur mit uns Deutschen los? Noch wenigen Jahren sprangen wir wie die Verrückten an Gummiseilen von Brücken, fuhren mit Rollschuhen auf die Zugspitze oder liefen mitten im Sommer stundenlang mit Skistöcken durch die Gegend. Wir waren aktiv, luden Freunde zu uns ein und kochten begeistert „nach Jamie Oliver“. Inzwischen wird auf allen TV-Kanälen gebrutzelt, bis die Crème brûlée glüht. Jeder, der zurzeit einigermaßen koordiniert einen Brühwürfel ins Wasser werfen kann, wird abgefeiert wie ein Popstar. Wir sind die erste Generation, die „Selber kochen“ durch „zuschauen, wie Menschen selber kochen“ ersetzt haben. Und während Lafer und Lichter, Wiener und Schubeck, Mälzer und Henssler den getrüffelten Wolfsbarsch ins Rohr schieben, wählen wir lustlos und abgespannt die Nummer des Pizzaservice.

Eine bedenkliche Entwicklung. Zumal englische Wissenschaftler herausfanden, was wir alle schon immer befürchtet haben: Mit jeder Stunde, die man vor dem vor dem Fernseher verbringt, wächst das Risiko, im Alter an Alzheimer zu erkranken. Aus Sicht der TV-Macher freilich ein höchst attraktiver Gedanke. Zukünftig könnte man immense Produktionskosten sparen, indem man einfach jeden Tag dasselbe Programm ausstrahlt.

Erst neulich habe ich mich dabei ertappt, wie ich mitten in der Nacht auf Eurosport Dressurreitwettbewerbe angeguckt habe. Einfach nur, weil dieser Moderator so eine angenehme Stimme hatte: „Hertha von Dönitz-Günnwaldhausen auf Diabolo heute etwas hart auf der Hinterhand, aber jetzt: sehr, sehr schön diese fliegenden Galoppwechsel und dieser sensible Übergang in die Traversale. Ja, jetzt spielt Diabolo, der 12-jährige westfälische Wallach aus dem Gestüt von Schlendrian zu Lauenberg-Wittgenstein, seine gesamte Routine aus und flirtet mit dem Publikum…“

Wahrscheinlich habe ich genau in dem Moment mein Alzheimer-Risiko um 50 Prozent erhöht. Nach einer halben Stunde war ich fest davon überzeugt, dass Dressurpferde rein von ihrem IQ ebenso gut als Gehirnchirurgen oder Atomphysiker arbeiten könnten. Reiter tragen tun die bestimmt nur als Hobby. Einfach, um den Kopf ein wenig frei zu bekommen.

Es ist grotesk. Obwohl wir so viel Freizeit haben, wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit, fühlen wir uns ausgebrannt und fertig. Zum Beispiel lese ich ständig, dass wir in einer modernen Stressgesellschaft leben. Früher, so sagen die meisten, war das Leben viel entspannter. Ich glaube, das stimmt nicht. Früher waren die meisten Menschen Bauern. Und haben Sie eine Ahnung, wann Kühe morgens aufstehen? Könnte es möglich sein, dass wir heutzutage chronisch unterfordert sind und deswegen so einen Stress haben? Noch vor dreißig Jahren war man müde, heute hat jeder ein Burnout. Sogar für das Nichtstun haben wir einen Begriff gefunden, der Aktivität vorgaukelt: Wellness. Früher war mein Nachbar einfach nur stinkfaul, heute sagt er: „Du, ich bin ein trockener Workaholic ...

 

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