In der Flüchtlingskrise wendet sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung von Angela Merkel ab
Im Herbst war Herta Müllers Beziehung zu ihrer bisherigen Lieblingszeitung in ihrem Winter angekommen. Die offenbar Ende 2015 erfolgte Kündigung ihres Abonnements soll vor allem im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zu reden gegeben haben: Müller, die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2009, war Deutschlands führendem Intelligenzblatt, als das sich die FAZ ganz selbstverständlich begreift, untreu geworden. Sie lese jetzt die Süddeutsche Zeitung, heisst es.
Müllers Ärger, so raunen Redaktoren, habe sich an den Kommentaren des politischen Ressorts entzündet. In der Flüchtlingskrise, so soll sich Müller beklagt haben, sei die FAZ deutlich nach rechts gerückt. Für die Autorin offenbar ein Anlass, nach vielen Jahren Abschied zu nehmen.
In ihren Anfängen war die FAZ einmal so etwas wie Konrad Adenauers Zeitung. Gegründet 1949 mit der Unterstützung von Industriellen, hatte sie den Auftrag, dem Kurs des Kanzlers einen theoretischen Überbau zu geben. Die Westbindung der Bundesrepublik galt es zu stützen, wer gewissen Grundsätzen nicht zustimmen konnte, schied mehr oder weniger freiwillig aus, wie Paul Sethe, der 1955 als Herausgeber zurücktrat, oder der spätere Herausgeber Jürgen Tern, dem 1970 vom damaligen Verlagsgeschäftsführer Werner G. Hoffmann kühl beschieden wurde: «Herr Tern, Sie haben wie immer drei Möglichkeiten: Sie kündigen, Sie lassen sich pensionieren, oder Sie suchen sich zwischendrinne irgendwas raus.»
Die Nähe zur CDU blieb, doch wandelte sich das Blatt mit der Partei: Als die damalige Generalsekretärin Angela Merkel 1999 drei Tage vor Weihnachten mit ihrem einstigen Förderer Helmut Kohl öffentlich abrechnete, tat sie dies in der FAZ. «Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen», schrieb Merkel damals.
Erfüllt sich in der FAZ das politische Schicksal der Kanzlerin? Ihr Bruch mit Kohl trug sie erst an die Spitze der Partei und später ins Kanzleramt. Nun, da die Zeitung Merkels Flüchtlingspolitik so scharf kritisiert wie keine andere deutsche Zeitung, reden manche bereits von Merkels Ende: Wenn sich die FAZ von der Kanzlerin abwendet, muss Deutschlands konservatives Bürgertum seinem Leitmedium nicht früher oder später folgen?
Ohrfeigen sonder Zahl muss Angela Merkel dieser Tage von der FAZ einstecken. «Das wäre Politik», schrieb Herausgeber Berthold Kohler am 4. Januar, um eine Obergrenze für Flüchtlinge zu fordern. Zwei Tage später, nach Merkels Besuch bei der CSU in Wildbad Kreuth, folgte Kohlers Empfehlung an die Kanzlerin, sich an der bayrischen Schwesterpartei zu orientieren, die einen Plafond von 200 000 gefordert hatte.
Zu diesem Zeitpunkt schien die FAZ Merkel noch nicht ganz aufgegeben zu haben. «Zur Orientierung» lautete Kohlers Überschrift. Man hing in Frankfurt wohl noch der Hoffnung nach, die Kanzlerin durch mahnende Worte auf den rechten Weg bringen zu können.
Dann jedoch, am 9. Januar, folgte unter dem Eindruck der Kölner Silvesternacht Kohlers bisher brutalste Abrechnung mit Merkel – und mit seinen Kollegen in deutschen Redaktionen: «Eine Mauer chinesischen Ausmasses» sei errichtet worden, «die nicht das Land abriegeln sollte, sondern eine Verbindung zwischen dem Kölner Vorfall und der Flüchtlingsfrage.»
Dabei, so Kohler, bewirkten «Schönreden, Bestreiten und Gesundbeten» das genaue Gegenteil von dem, was man damit beabsichtige. Was in Köln geschehen sei, stelle «einen schweren Schlag für Merkels Politik der Willkommenskultur» dar, denn «Sicherheit und Zukunft dieser Republik hängen selbstverständlich davon ab, wen wir bei uns willkommen heissen».
Damit war geschehen, was keiner, der die Geschichte der Bundesrepublik kennt, jemals für möglich gehalten hätte: Die FAZ war von der CDU zur CSU übergelaufen, von Merkel zu deren schärfstem Kritiker, dem bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer.
Wer nun allerdings glaubt, dass daran nur die Flüchtlingskrise schuld wäre, irrt. Es ist ein länger anhaltender Prozess der Entfremdung, der zwischen Merkel und der Frankfurter Allgemeinen stattgefunden hat. Das ist deswegen interessant, weil sich hier die Bruchlinien zwischen Merkels CDU und ihrer traditionellen Anhängerschaft zeigen. Eine Zeitung als Seismograf.
Am 21. November 2015, aus Anlass von Merkels zehnjährigem Amtsjubiläum, hielt Politikredaktor Jasper von Altenbockum Rückschau. Die Bilanz, die er zog, fiel für die Kanzlerin wenig schmeichelhaft aus. Als «Nebelkönigin» betitelte Altenbockum Angela Merkel.
«Bewährte Institutionen wie die allgemeine Wehrpflicht oder eben auch die Atomindustrie» hätten CDU und CSU unter Merkel abgeräumt. Niemand wisse, wohin es mit ihr gehe: «Geblieben ist der Nebel, der mit der Flüchtlingskrise und der Rückkehr des Terrors nach Europa noch einmal dichter geworden ist», schreibt Altenbockum. Mit leicht drohendem Unterton fragt er: «Wo liegt das Land, das Merkel ‹mein Land› nannte, als es Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik gab?»
Dass sich die FAZ so klar gegen die Kanzlerin stellt und gleichzeitig traditionelle bürgerliche Werte hochhält, hat womöglich mindestens so viel mit personellen Konstellationen zu tun wie mit aktuellen Ereignissen. Als Günther Nonnenmacher noch dem Herausgebergremium angehört habe, hätten sich dieser und Berthold Kohler gegenseitig blockiert, berichtet ein FAZ -Redaktor.
Während Kohler von jeher als klassischer Konservativer aufgetreten sei, habe Nonnenmacher, von manchen hinter vorgehaltener Hand spöttisch «Ober-Hegelianer» genannt, lieber Partei für die Kanzlerin ergriffen: «Er glaubte, dass Merkel recht hat, und wer anderer Meinung war, der kannte die Fakten halt nicht.»
Seit der Pensionierung Nonnenmachers Ende 2014 kann Kohler als Einziger für Politik zuständiger Herausgeber nach Belieben schalten und walten. In der Migrationsfrage geben nun er, Altenbockum und Politikredaktor Reinhard Müller den Ton an.
Das heisst nicht, dass die Redaktion ein einheitlicher Block wäre. Gespalten wie die Union ist auch Deutschlands bürgerliches Intelligenzblatt: In der Sonntagsausgabe hat sich Politikchef Volker Zastrow zum offiziösen Anti-Kohler aufgeschwungen: Zur Politik Angela Merkels gebe es keine Alternative, schreibt er in der Ausgabe vom 10. Januar. Merkel oder Chaos, das ist die Weggabelung, an der Deutschland – wenn nicht ganz Europa – laut Zastrow steht. Selbst die Möglichkeit eines Krieges zwischen Slowenien und Kroatien malt er in seinem Leitartikel an die Wand. Vor allem jüngere Redaktoren, so heisst es, stünden eher aufseiten Zastrows und zeigten sich von Kohlers konservativem Kurs irritiert.
Die Konkurrenz betrachtet derartige Flügelkämpfe mit Argusaugen – und nimmt Partei: Dabei wird Zastrow von Linken umarmt und als bürgerlicher Kronzeuge herangezogen, während Kohler und Altenbockum jüngst von Cordt Schnibben im Spiegel als «Salonhetzer» verunglimpft wurden.
Was ebenfalls auffällt bei der FAZ-Lektüre (und sich im konservativeren Kurs womöglich widerspiegelt): Die Deutungshoheit über das Weltgeschehen liegt wieder eindeutig beim Politikressort, nicht mehr beim Feuilleton. Dessen im Juni 2014 ebenso früh wie unerwartet verstorbener Herausgeber Frank Schirrmacher hatte der Branche fast zwei Jahrzehnte lang diktiert, worüber sie zu debattieren hatte.
Nun finden Debatten an anderer Stelle statt, etwa im Wirtschaftsteil der Sonntagsausgabe, wo Ressortleiter Rainer Hank in den Augen mancher Stammleser mittlerweile das bessere Feuilleton verantwortet. Oder im ersten Bund der Werktagsausgabe, wo diese Woche der frühere Fernsehkorrespondent Samuel Schirmbeck mit einem Debattenbeitrag Aufsehen erregte: «Sie hassen uns», schrieb er mit Blick auf die Ereignisse der Kölner Silvesternacht und plädierte für einen unverkrampfteren Umgang mit der aus seiner Sicht dringend notwendigen Kritik am Islam.
Ein Beitrag des Konstanzer Soziologen Hans-Georg Soeffner im Feuilleton («Vergesst eure Leitkultur!») ging daneben beinahe unter. Ansonsten handelte der Kulturteil von «Star Wars», dem Dirigenten Christian Thielemann und Franz Xaver Winterhalter, einem Porträtmaler des 19. Jahrhunderts. Die natürliche Ordnung der Dinge, so mögen das langjährige Leser sehen, war damit bei der FAZ wieder hergestellt.
Spannend, doch naturgemäss nicht zu beantworten bleibt die Frage, was Schirrmacher wohl aus der Flüchtlingskrise gemacht hätte. Die Teufel, die er unablässig an die Wand malte, entstammten grossteils der digitalen Welt. Die jetzige Krise hingegen ist analog, will heissen erschreckend real. Dass einer einmal Firmen wie Google, Apple und Amazon für die grösste Bedrohung gehalten hat, erscheint heute fast frivol. In der Krise wird der Journalist wieder zum Realitätenvermittler: Schwierige Zeiten verlangen nach Einordnung. Der Zeitung mag das guttun, publizistisch wie wirtschaftlich. Herta Müller wird für ihr Abonnement wohl auch nicht mehr bezahlt haben als andere Leser.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung