David Harnasch / 12.08.2011 / 12:02 / 0 / Seite ausdrucken

Die Gefahr geht vom Opfer aus!

Erstens sind die “Unruhen” mit mehrfacher Todesfolge weniger “beunruhigend” als die Tatsache, dass ihnen “immer weniger Verständnis” entgegengebracht wird. Denn daraus könnte die “Abschaffung der Sozialpolitik” (=sanft spürbare Konsequenzen bei der Alimentation einiger Randalierer) folgen. Die wäre außerdem wirkungslos, weil ja nicht alle Unruhestifter der Unterschicht angehören. Das Millionärstöchterchen hat quasi aus klassenübergreifender Solidarität mitgemacht, denn auch sie ist nur “scheinbar asozial”. Ihr eine Dusche mit der Studentenwaschanlage zu verpassen, würde aber “den Blick auf die wirklichen Probleme verdrängen” Also: “Auf die Ärmsten zugehen, statt sie auszugrenzen”, und schon herrscht wieder eitel Sonnenschein.

Petra Sorge schreibt für Cicero Online über den Krieg gegen London.

Die Brutalität der Unruhen in England muss jeden, der sie beobachtet, sprachlos machen. Fünf Menschen kamen bei den Randalen bislang ums Leben, zahllose Geschäfte wurden geplündert, Molotow-Cocktails flogen, ein Popmusik-Archiv brannte aus. Die Zerstörung ist groß, doch noch größer droht die Zerstörung der wichtigsten demokratischen Prinzipien, die eine demokratische Gesellschaft zusammenhalten: Solidarität und Sozialpolitik.

Keine Frage, fünf Menschenleben sind ein Klacks im Vergleich zur “Zerstörung” der “Sozialpolitik”. Konkret benennt Sorge später im Text, was darunter zu verstehen ist:

Die Homepage eines Webaktivisten, der die Kürzung der Sozialhilfe für die Randalierer forderte, brach wegen des Ansturms gleich ganz zusammen.

Das Mindeste, was die Mittäter der Mörder von den Angehörigen der Opfer verlangen dürfen, ist ja wohl, auf demselben Niveau alimentiert zu werden, wie tatsächlich unverschuldet in Not geratene, harmlose Mitbürger.

Viel beängstigender als die harten Töne von Seiten der Behörden ist jedoch eine Stimmung in der Mitte der Gesellschaft, die den Unruhen immer weniger Verständnis entgegenbringt. Wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov am Mittwoch ergab, stimmt die Mehrheit der Briten für eine repressivere Strategie gegen die Unruhestifter. Neun von zehn Briten würden den Einsatz von Wasserwerfern befürworten, jeder dritte würde den bislang unbewaffneten Polizisten das Schießen erlauben. Auch den Einsatz von Pferden, Tränengas, Elektroschockpistolen und Plastikgeschossen begrüßt die Mehrheit der Befragten. Mehr als drei Viertel der Briten fordern sogar den Einsatz der Armee, den selbst die Regierung nicht mehr ausschließt.

Die Umfrage zeigt auch, wie groß die Bürger der Politik und der Justiz misstrauen: 57 Prozent der Briten glauben, dass Cameron die Situation nur „schlecht“ im Griff habe, und 85 Prozent fürchten, dass die Schuldigen ungestraft davonkommen.

In einem ohnmächtigen Versuch, der Gewalt Herr zu werden, setzt sich die Mittelklasse gegen die Unteren, die scheinbar Asozialen, zur Wehr.

Das ist in der Tat beängstigend: “Immer weniger Verständnis für die Unruhen”. Wasserwerfer! Gegen Plünderer! Brutale Polizeigewalt, üblich nur unter berüchtigten Militärdiktaturen wie aktuell in Deutschland, Frankreich, Italien! Wenn die Polizei sich erfrechen würde, ein nur scheinbar asoziales neunzehnjähriges Millionärstöchterchen beim Ausrauben mittelständischer Geschäfte mit Wasser zu benetzen, dann ist das offensichtlich eine unprovozierte Kriegserklärung der Mittelklasse gegen die Unterschicht.
Oder auch nicht, denn bevor sie wieder ins sozialdemokratische Delirium abdriftet, stattet auch Frau Sorge der Realität einen kurzen Besuch ab:

Die britische Mittelschicht, die sich gemütlich eingerichtet hat, ein Häuschen im Grünen bewohnt und täglich zur Arbeit geht, wendet sich angewidert von den Krawallmachern ab. Dabei verkennt sie zwei Dinge: Erstens sind die sichtbarsten Zerstörer nicht unbedingt nur Angehörige der Unterschicht. Unter den mehr als 1.300 Personen, die im Zusammenhang mit den Protesten in ganz England festgenommen wurden, sind etwa auch ein Lehrer, ein Küchenchef, die Tochter eines Millionärs und ein elfjähriger Schuljunge. Nicht alle Unruhestifter kommen aus der Unterschicht, und nicht alle Angehörigen der Unterschicht nehmen an den Protesten teil.

OK, wir haben es also laut Frau Sorge NICHT mit einem Problem der Unterschicht zu tun. Also Polizeigewalt gegen die Asozialen ALLER Schichten? Nein, denn die verdrängt “den Blick auf die wirklichen Probleme”. Kein Witz:

Zweitens verdrängt die Diskussion um Polizeitaktiken und Armeeeinsatz den Blick auf die wirklichen Probleme: die immer stärkeren sozialen Spannungen, die Ausgrenzung von Armen und Immigranten, die Perspektivlosigkeit der Jugend. Doch statt nach echten Lösungen in einer verbesserten Sozialstruktur zu suchen, ist es leichter, an den Symptomen zu operieren.

Was schlägt Frau Sorge also vor, um das neunzehnjährige Millionärstöchterchen künftig zu resozialisieren? Genau: Ihren Vater enteignen und sein Geld direkt an die ebenso asozialen, aber eben der Unterschicht zugehörigen Komplizen seiner Tochter verteilen:

Den größten Fortschritt in ihrer Geschichte machten die westlichen Demokratien, als sie die Klassenkonflikte mit Sozialpolitik dämpften, als sie im Laufe des 20. Jahrhunderts der Unterschicht durch Umverteilung im Staatshaushalt, Sozialversicherungen, Wohlfahrtsprogramme und bessere Bildungsangebote mehr Aufstiegsmöglichkeiten einräumten. In Großbritannien ist gerade das Gegenteil zu beobachten: Der Staat kürzte immer mehr Sozialprogramme. Bildung ist kaum noch bezahlbar, für viele Jugendliche sind die teuren Studienplätze unerschwinglich. Die Gesundheitssysteme sind marode, und der Staat kann selbst kaum noch Jobs anbieten, weil seit den 1990er Jahren die Axt an öffentliche Unternehmen wie die Eisenbahn gelegt wurde. Mittlerweile ist jeder fünfte Jugendliche unter 25 Jahren ohne Job.

In einer Demokratie ist die Mittelschicht die wichtigste, weil tragende Schicht. Nur, wenn die Menschen ausreichend wohlhabend sind, werden sie sich intelligent am politischen Leben beteiligen, sagte der Politikwissenschaftler Seymour Lipset und wiederholte damit eine uralte Erkenntnis des Philosophen Aristoteles. Wenn die Mittelschicht aber blind ist für die Probleme der Ärmsten, an denen sie auch teilweise selbst schuld ist, droht sie selbst das soziale Band zu zerschneiden, das eine demokratische Gesellschaft zusammenhält. Was dann passiert, kann man etwa in Südafrika und Lateinamerika beobachten: Dort schotten sich die Reichen mit Mauern, Stacheldraht und Personenschutz gegen die Mittellosen ab. Großbritannien sollte daher lieber auf seine Ärmsten zugehen, anstatt sie auszugrenzen.

Klasse Idee, klappt sicher. Pat Condell hat dazu auch noch einige Anmerkungen.

 

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