Eran Yardeni
Die niedrige durchschnittliche Geburtenrate in Europa hat angeblich nur wenig mit der künftigen Entwicklung Israels zu tun. Israel, mit einer durchschnittlichen Geburtenrate von 2.68 Kindern pro Frau, ist mit Abstand der kinderreichste Staat in der westlichen Welt. Die folgenden vier Plätze belegen Island (2.2) Frankreich (2.09), USA (2.06) und Irland (2.01). In den anderen westlichen Ländern fällt die durchschnittliche Geburtenrate unter 2 Kinder pro Frau. Während die Bevölkerungswachstumsrate Israels 2010 bei 1.83% lag, lag die deutsche Bevölkerungswachstumsrate im selben Jahr bei -0.15%. Ja es ist kein Fehler: Minus null Komma fünfzehnten Prozent! Warum denn soll sich denn Israel Sorgen machen, wenn die deutsche emanzipierte Frauen durchschnittlich nur 1.39 Kinder auf die Welt bring? Was hat es mit dem Zionismus zu tun, wenn sich die kanadische Frau mit 1.68 Kindern begnügt?
Um diese Frage zu beantworten, muss man einfach einen normalen israelischen Supermarkt besuchen. Und zwar nicht in Tel-Aviv, wo die Preisen sowieso ziemlich hoch sind, sondern in den Peripherien, in kleinen Städten wie Kryat Gat oder Kiryat Bialik. Ein kurzer Blick auf die Produktenpreise erzählt die ganze Geschichte: Während die kinderlose emanzipierte deutsche Frau ca. 57 Cent für einen Liter Milch bezahlt, muss die israelische Mutter für denselben Liter Milch ca. 1,45 EUR ausgeben, und das trotz der Tatsache, dass die Letztere durchschnittlich weniger verdient.
In keinem anderen Land in der westlichen Welt bezahlt man mehr Steuer als in Israel. Während junge Eltern in Deutschland Kindergeld in Höhe von 184 EUR für das erste Kind bekommen, begnügen sich die Eltern in Israel mit ca. 35 EUR. Für 85,000 EUR kann man heute in Berlin eine 2-Zimmerwohnung in Wilmersdorf kaufen. In Israel reicht diese Summe vielleicht für Einzimmerwohnung in einer kleinen armen und staubigen Stadt wie Kiryat Malachi. Da gibt es aber mehr Sozialfälle als Einwohner.
Genau darin besteht aber die Gefahr: Kinderlose Nationen suchen hoch qualifizierte Leute, die bereit sind auszuwandern und ihre Zukunft woanders zu suchen. Die Lebenshaltungskosten in Israel machen dieses Land heute schon zum Hochqualifizierten- und Wissenschaftlerlieferant kinderarmer Gesellschaften. Das Thema Brain-Drain, die Abwanderung der Intelligenz, beschäftigt seit ein paar Jahren die israelischen Regierungen und gehört zu der Tagesordnung der israelischen Tageszeitungen. Schon am 28.6.2006 wurde dieses Thema in der Knesset diskutiert. Seitdem ist die finanzielle Situation der israelischen Mittelschicht, zu der die Mehrheit der hochqualifizierten Arbeiter gehört, nur schlimmer geworden.
Neulich konnte man in israelischen Zeitungen lesen, dass die jetzige Regierung die Einkommenssteuer um noch 1% erhöhen wollte, und das weniger als ein Jahr nachdem junge Leute gegen die hohen Lebenserhaltungskosten protestierten. Die Steuerlast und die immer höheren Preise ersticken die produktiven arbeitenden Schichten Israels. Anstatt die Mittelschicht für ihre Tüchtigkeit zu belohnen, wird sie bestraft. Unbewusst oder bewusst weist Israel seinen besten Söhnen und Töchtern die Tür.
Dass Kanada, Deutschland und Großbritannien ihre Einwanderungspolitik reformierten, um hochqualifizierte Arbeiter und Wissenschaftler zu locken, dass diese Länder, wie auch viele andere kinderarme Nationen, junge begabte Steuerzahler brauchen, damit ihre Sozialsysteme nicht zusammenbrechen, dass USA bessere Bedingungen für Wissenschaftler bieten als alle andere Länder der freien Welt bedeutet noch nicht, dass Israel die undankbare Rolle als Menschenmateriallieferant kinderloser Gesellschaften übernehmen muss. Dass Israel, gegen seine eigenen Interessen, diese Rolle freiwillig und wiederstandlos doch akzeptiert, ist nicht nur ein Rätsel sondern eine Tragödie.