Rainer Bonhorst / 16.05.2015 / 23:12 / 6 / Seite ausdrucken

Die Briten sind Europas reifste Demokraten

Alle reden von Griechenland, aber was ist mit England? Warum vergeuden die Spitzenpolitiker Europas Unmengen an Zeit, Energie und Gehirnschmalz, um ein niedliches Ländchen am Rande Europas, das mit Geld nicht umgehen kann, rauszuhauen? Und der drohende Austritt eines der wichtigsten Länder der Europäischen Union löst nur stummes Staunen aus. Was ist das? Schockstarre, weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Oder sind zu viele Politiker aufs altsprachliche Gymnasium gegangen, so dass ihnen Homer näher ist als Adam Smith und Churchill?

Das verstehe, wer will. Bei halbwegs realistischer Gewichtung kann uns die große griechische Tragödie, die ja eigentlich eine Komödie ist, ziemlich wurscht sein. Dagegen trifft das politische Abenteuer, das uns die Briten vorführen, nicht nur mitten ins Herz des Königreichs, sondern mindestens ebenso ins Herz Europas.

Großbritannien ist nicht nur ein wichtiger Wirtschafts- und Finanzplatz. Entscheidender noch ist der ausgeprägte politische Charakter der Insel, ohne den Europas sehr viel ärmer wäre.

Damit meine ich nicht den Unterhaltungswert der britischen Politik, obwohl der kaum zu überbieten ist. Wo sonst könnte es geschehen, dass eine altehrwürdige Partei wie Labour über Nacht aus ihrer gebirgigen Hochburg nahezu komplett vertrieben und zur Gänze durch die dortigen Nationalisten ersetzt wird?

Schottlands Nationalisten stehen allerdings links. Und sie tun dies auf einem so soliden Boden, dass sie die ins Intellektuelle entrückte Labour Party ersetzen konnten, ohne den Wählern große ideologische Kopfschmerzen zu bereiten. Und nun ist ein halbes Hundert widerborstiger SNP-Charaktere lawinengleich aus den nördlichen Bergen in den südenglischen Westminster Palast eingefallen.

Dort residiert dank der Labour-Pleite der konservative Südstaatler David Cameron jetzt als Alleinherrscher und das heißt: Das Referendum über Austritt oder Verbleib des Königreichs in der Europäischen Union, das er versprochen hat, wird stattfinden. Das könnte zu einem Erdbeben in der Union führen.

Und was geschieht auf dem Kontinent?

Manche Brüsseler freuen sich klammheimlich über die Chance, die Insel im Nebel verschwinden zu sehen. Sie würden den ewigen Störenfried lieber heute als morgen loswerden, damit sie endlich ungehindert ihre Nanny-Politik betreiben können. Durchregieren heißt das, seit Nanny Angela das Wort geprägt hat.

Es ist die Freude nicht der guten sondern der engstirnigen Europäer. Denn wenn Brüssel etwas braucht, dann ist es eine lautstarke Opposition. Und die wäre weg, wenn England weg wäre. Es wäre ein kaum zu ertragender Verlust.

Denn erstens gehören die Insulaner zu den letzten wirklich Liberalen Europas. Zwar rühren auch dort die politisch korrekten Nannys ihre absurden Häupter. Aber das halbwegs freie Spiel der Kräfte hat auf der Insel immer noch ein Zuhause. Der Staat ist nicht die große Mutter, an deren Busen alles hängt. Die Insel ist ein freiheitliches Gegengewicht zum staatsgläubigen Kontinent.

Und zweitens wollen sich die Briten nicht von Brüssel über Gebühr bevormunden lassen. Sie meinen es ernst mit der Subsidiarität, die auf dem Kontinent vielerorts nur ein Wort zum Sonntag ist. Sie stellen mit dem notwendigen Nachdruck die große europäische Frage: Was soll zentral entschieden werden und was daheim, in den demokratisch gewählten Parlamenten und von den gewählten nationalen Regierungen? Die Briten sind Europas reifste Demokraten. Sie wollen sich nicht von x-beliebigen EU-Kommissaren, die ihre Demokratie-Lehre gerade erst abgeschlossen haben, vorschreiben lassen, wie sie leben sollen und wie Demokratie geht.

Andere, vor allem kleinere Länder, teilen Englands Sorgen und Widerwillen gegen die Herrschaft der Kommissare. Aber sie haben nicht Englands lautes Organ. Fällt dieses Organ aus, werden sie untergebuttert. Europa ohne England wäre eine Katastrophe der Konformität. Die Briten kämpfen nicht nur für sich, wie es immer heißt, sondern für alle, die nationale und regionale Eigenheiten und demokratische Bürgernähe erhalten wollen.

Vielfalt in der Einheit, Selbstbestimmung in einem gemeinsamen Haus – das würde ohne die Briten noch schwerer als es ohnehin schon ist. Und die Stimmung in Britannien ist fatal. Cameron will zwar mit dem Referendum nur pokern und in Brüssel so viel herausholen, dass er seine Landsleute in dem Klub halten kann. Aber es ist ein Spiel mit hohem Risiko. Ja, es stimmt, dass die Briten sich selber schaden, wenn sie austreten. Aber der Mensch lebt nicht vom Kopf allein. Und was ein echter John Bull ist, der beißt sich lieber in den Schwanz, als dass er sich zu sehr verbiegen lässt.

Ja, und wenn das so kommen sollte, wenn Camerons Briten „good bye Europe“ sagen sollten, wird es erst richtig chaotisch. Dann kommen die Schotten ins Spiel, die begeisterte Europäer sind. Und sei es nur, um den Engländern zu zeigen, dass ihnen ihr Eigenleben gegenüber dem südlichen Nachbarn genauso wichtig ist wie den Engländern ihr Eigenleben gegenüber Brüssel. Was für ein Schauspiel wäre das: Great Britain verlässt Europa und Schottland verlässt nach einem neuerlichen Referendum Großbritannien und hängt sich wieder an Europa an.

Angesichts dieses verwirrenden Stücks Inseldemokratie verschlägt es den stromlinienförmigen Kontinentaleuropäern glatt die Sprache. Das Thema ist einfach zu groß, zu wild und zu unsortiert, um es mit den gängigen Sprüchen der Alternativlosigkeit zu bewältigen.

Man wendet sich erschrocken und ratlos ab und vertreibt sich lieber am anderen Ende Europas mit griechischen Kleinigkeiten die Zeit.

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Matthias Elger / 19.05.2015

Wenn man den Umgang der Briten mit der EU nicht mit gängigen Sprüchen der Alternativlosigkeit bewältigen kann, dann zeigt sich welche Möglichkeiten doch bestehen. Auch für uns Deutsche, wo wir nicht annähernd solche Probleme, wie GB haben, regional so distanziert sind, wie England und Schottland. Dieses alberne Wort alternativlos, war eine Geburt von A. Merkel um ihre Unfähigkeit auch in der Krise nach guten Lösungen zu suchen, zu verbergen.

Jochen Kramer / 18.05.2015

” Ja, es stimmt, dass die Briten sich selber schaden, wenn sie austreten.” Sind Sie sicher?

Tina Elderling-Manne / 17.05.2015

Auch wenn das parlamentarische Ergebnis der letzten Wahl etwas seltsam aussieht hinsichtlich gewonnener Stimmen zu erhaltenen Sitzen halte ich es doch für ein erwägenswertes Vorbild für Deutschland. Im Gegensatz zu GB wo man nämlich direkt einen Wahlkreiskandidaten wählt und nur den besteht ein viel direkterer Zusammenhang zwischen Auftrag des Wählers und Verantwortung des Abgeordneten. In Deutschland dagegen ist die Erststimme mehr oder weniger für die Show, der Rest ist periodisch wechselnde Parteienverwaltung. Das mag zwar wie Beton wirken gegen Extremisten, aber es wirkt auch wie Beton, wenn in den Köpfen der Verantwortlichen Beton gemischt wird. Vielleicht sollten wir die Zweitstimme abschaffen, oder noch besser, den ganzen Bundestag und im Gegenzug die Länder auf Landkreisgrösse runterdampfen (wobei die Verantwortung nach unten deligiert werden muss!). Jeder Landkreis wählt dann seine Regierung, bzw. ein 30 Mann Parlament, gerne nach Parteiendiktat und die Regierung schickt dann einen Vertreter in den Bundesrat. Fertig. Damit wäre die Verantwortungsbeziehung viel direkter hergestellt, da jeder sehen könnte, ob die Heimat funktioniert oder nicht. Gleichzeitig wäre das Interessenspaket jeder Bundesratsregierung explizit abgesteckt. Keine Landkreisregierung könnte es sich mehr leisten irgendwelchen Ideoligien hinterher zu hecheln und niemand wäre mehr Diener zweier Herren. Aber das wäre ja Demokratie und das will ja keiner..

Klaus Kalweit / 17.05.2015

In der EU und einigen Ländern, darunter Deutschland in der ersten Reihe, werden demokratische Rechte und die Einflußnahme der Bürger langsam und stetig abgebaut. Ob England da eine Ausnahme macht, fällt mir schwer zu beurteilen, aber sicher wird die Errichtung von staatshörigen Strukturen ohne England leichter. Ich bin sogar Pessimist. Ich fürchte, sowohl die EU mit ihrer größenwahnsinnigen Doppelspitze Junker und Schulz als auch Deutschland werden sich in einigen Jahren zu Systemen entwickeln, die demokratische Züge nur noch zeigen, wenn es zu entscheiden gilt, ob der neue Brunnen am Marktplatz 200 oder 210 cm Durchmesser bekommt. Inzwischen fordert sogar die größte niedersächsische Zeitung ungeschminkt, es gelte, die Hälfte der Bürger, die keine ungebremste Zuwanderung wollen, zum Umdenken zu veranlassen. Damit wird das Ende der Demokratie eingeläutet. Übrigens hat Bofinger heute Merkel aufgefordert, Bargeld abzuschaffen. Das sei dank moderner Möglichkeiten ein Anachronismus. Auch solle Merkel andere Länder davon überzeugen, es uns nachzumachen. Wer hier nicht den Angriff auf die Freiheit der Menschen erkennt, hat sie auch nicht verdient.

Manfred Gießbach / 17.05.2015

“Großbritannien ist nicht nur ein wichtiger Wirtschafts- und Finanzplatz. “ Lieber Autor, bitte begründen Sie doch einmal näher, warum es Europa so wichtig sein soll, dieses exkoloniale reaktionäre Krebsgeschwür der sohenannten Hochfinanz für als wichtig zu erachten.

Berthold Bohner / 17.05.2015

Ich wundere mich immer meh , dass unsere Regierung den Erpessungen aus Griechenland nicht entschlossener entgegentritt. In Griechenland einen Präzedenzfall zu schaffen, der andere Südländer davon abhält , sich auf die Zahlungsbereitschaft Deutschlands zu verlassen und Reformen zu verschleppen, müsste im ureigensten Interesse Deutschlands sein. Die EU ohne Großbritannien würde die Gewichte zugunsten der Umverteilungspolitik verschieben. Die wirtschaftliche Prosperität Deutschlands ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde von der deutschen Bevölkerung mit schmerzhaften Opfern erkauft . Ich habe keine Lust, eine Menge Steuern zu bezahlen, eine Gesetzes und Regulierungsdichte zu ertragen, nur um den Griechen ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Letztendlich kann jede Gesellschaft nur das verbrauchen, was sie an Wertschöpfung hervorbringt. Wenn den Griechen die eigene Wertschöpfung nicht für den gewünschten Lebensstandard ausreicht, ist das nicht unser Problem. Oder, zugespitzt: wer leben will wie ein Deutscher, muss auch arbeiten wie ein Deutscher.

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