Alexander Wendt
Von einer Parallelgesellschaft ist zu berichten, von einem Milieu, das lieber unter sich bleibt und den Kontakt mit dem deutschen Alltag vermeidet, wo es geht. Selten waren die Spitzenpolitiker des Landes so sehr als eigene Klasse erkennbar wie in der Woche, als sie Sarrazins Buch ungelesen in den Boden rammten. Mag sein, dass sich Sarrazin da und dort irrt oder eine Statistik angreifbar scheint. Aber das allein erkla?rt noch nicht, warum die politische Kaste nahezu geschlossen mit einer unwirschen Abwehrgeste reagiert, wa?hrend der Rest der Gesellschaft ziemlich lebhaft u?ber Integration streitet. Liegt es vielleicht daran, dass die Repra?sentanten der repra?sentativen Demokratie tatsa?chlich in einer Parallelwelt leben, in der kriminelle Großclans, miserable Schulen und viele andere Unbilden schlicht nicht vorkommen?
Auf die Frage eines Journalisten, ob er sein Kind auf eine Schule mit 90 Prozent Einwandereranteil schicken wu?rde, antwortete der fru?here gru?ne Umweltminister von Schleswig-Holstein, Klaus Mu?ller, einmal: Nein, das wu?rde er nicht, denn er finde nicht, dass sein Kind die Folgen einer missglu?ckten Einwanderungspolitik ausbaden mu?sse. Da schwingt immerhin die Erkenntnis mit, dass andere diese Folgen sehr wohl ausbaden mu?ssen.
Spitzenpolitiker wohnen eher nicht in Neuko?lln oder Duisburg-Marxloh, und wenn es ein Lokalpolitiker doch tut, wie der Bezirksbu?rgermeister Heinz Buschkowsky, dann redet er grundsa?tzlich anders als seine Kollegen der abgefederten Premiumklasse. Sobald das Politische privat wird, achtet diese Klasse fu?r sich selbst sehr akkurat auf Abstand. Sehr scho?n manifestiert sich dieses Prinzip in der perso?nlichen Schulpolitik. In Nordrhein-Westfalen gehen Sozialdemokraten und Gru?ne mit Hilfe der Linkspartei gerade daran, aus tiefster U?berzeugung das Schulsystem umzukrempeln und in wenigen Jahren 30 Prozent aller Institute zu Gesamtschulen zu machen. Das „gemeinsame Lernen von Klasse 1 bis 10“ (so das Programm der Gru?nen) gilt bei allen drei Partnern als beste aller mo?glichen Welten. Privat haben die Spitzenpolitikerinnen die Frage nach der besten Schule nicht minder eindeutig entschieden: Der Sohn von Ministerpra?sidentin Hannelore Kraft (SPD) besucht das Gymnasium, ebenso die beiden Kinder der langja?hrigen Gru?nen-Vorsitzenden Daniela Schneckenburger. Die Linkspartei-Landessprecherin Katharina Schwabedissen schickt ihre beiden So?hne auf eine Privatschule.
In Hessen ka?mpfte Andrea Ypsilanti fu?r das „lange gemeinsame Lernen“ und empfiehlt diese Schulform unverdrossen durch ihr „Institut Solidarische Moderne“. Ebenso selbstversta?ndlich besucht ihr Sohn ein privates Gymnasium. Wann immer Ypsilantis Solidarische Moderne also ausbricht: Sie betrifft das Leben der anderen.
Wer es wagt, die Betreffenden auf die Dissonanz zwischen Tugendpredigt und eigenem Lebensstil aufmerksam zu machen, erntet von jeher ein indigniertes Hu?steln und wahlweise den Vorwurf, die Frage sei „primitiv“ oder „geschmacklos“. Die belehrende Klasse, wie wir sie an dieser Stelle nennen wollen, verlangt von anderen im No?l-Ton moralischer Erpressung, zur Fo?rderung o?ffentlicher Tugend gerade das Gegenteil von dem zu tun, was sie fu?r sich selbst als angemessen erachtet.
Vielleicht ist es unvermeidlich, dass sich Spitzenpolitiker ihr eigenes Sein und damit Bewusstsein schaffen. Aber wenn sie von dort aus noch versuchen, den Menschen draußen im Land das Unbehagen u?ber missglu?ckte Einwanderung, Schulexperimente und unsichere Rente wegzupa?dagogisieren, dann ko?nnte es passieren, dass diese Menschen irgendwann sehr ungehalten werden.
Alexander Wendt, 44, ist FOCUS-Korrespondent in Leipzig.
C: FOCUS 39/10