Die Täter der tödlichen Anschläge von Hanau und Würzburg haben eine Gemeinsamkeit: Beide waren schon vor der Tat psychiatrisch auffällig, weshalb bei beiden eine mögliche Schuldunfähigkeit zu prüfen war.
„Möglicherweise schuldunfähig“ – mit dieser dürren Begründung veranlasste die Generalstaatsanwaltschaft München vier Wochen nach der Tat die Überstellung des somalischen Attentäters von Würzburg aus der U-Haft in eine spezielle geschlossene psychiatrische Einrichtung. Der relativ lange Verbleib in der U-Haft weist deutlich darauf hin, dass es nicht leicht fiel, bei dem bloß geduldeten somalischen „Flüchtling“ eine schwerwiegende psychische Störung zu erkennen. Und nur darum kann es hier ja gehen.
Für diese diagnostischen Probleme kommen mehrere Gründe in Betracht: zunächst natürlich sprachliche Verständigungsschwierigkeiten, aber auch mangelnde Kooperation, kulturelle Besonderheiten und eine unter anhaltender Drogen- und Alkoholabstinenz mittlerweile abgeschwächte psychiatrische Symptomatik, so denn zur Tatzeit überhaupt eine relevante psychische Störung vorlag. Ansonsten, so lassen die Ermittlungsbehörden verlautbaren, hätten sich „weder Hinweise auf Propagandamaterial oder sonstige extremistische Inhalte noch auf etwaige Mittäter oder Mitwisser“ ergeben. Das spricht zwar eher gegen eine dschihadistische Tat, schließt sie selbstverständlich aber keinesfalls aus.
Die psychiatrische Vorgeschichte des Somaliers
Wie die Mainpost berichtet, gibt es zur Vorgeschichte des 24-jährigen Attentäters mittlerweile etwas genauere Informationen. Demnach befand er sich bereits fünfmal in einer stationären psychiatrischen Einrichtung: bereits 2019 in Chemnitz, dann zweimal freiwillig im Würzburger Zentrum für Seelische Gesundheit und in diesem Jahr erneut, allerdings zwangsweise, im Januar und zuletzt vom 14. bis 15. Juni – nach Nötigung eines Autofahrers. Bei den Aufenthalten im Würzburger Zentrum hätten jeweils „drogeninduzierte Psychosen und wahnhafte Störungen“ vorgelegen, was seitens der Mainpost etwas unpräzise formuliert ist, da wahnhafte Störungen auch konstituierendes Symptom von drogeninduzierten Psychosen sind.
Der Somalier habe Crystal Meth, Heroin, Cannabis und vor allem Alkohol konsumiert. Die sich darunter entwickelnde psychiatrische Symptomatik habe sich unter der Behandlung – also Abstinenz plus wahrscheinlich Antipsychotika – immer rasch zurückgebildet, sodass nach Angaben des zuständigen Chefarztes Prof. Dominikus Bönsch „keine Selbst- oder Fremdgefährdung mehr vorhanden war, die eine weitere Behandlung gegen seinen Willen erlaubt oder auch nur sinnvoll gemacht hätte“. Bönsch weist zu Recht auch darauf hin, dass es aufgrund mehrerer Gesetzesänderungen in den letzten Jahren mittlerweile „extrem hohe Hürden“ gebe, einen Patienten gegen seinen Willen in der Psychiatrie zu behandeln. Wenn beim Entlassungswunsch keine momentane oder unmittelbare Eigen- oder Fremdgefährdung mehr erkennbar sei, müsse die Behandlung bzw. der Aufenthalt beendet werden.
Hin und her bei der gesetzlichen Betreuung
Aber ganz geheuer war der Somalier den Verantwortlichen im Würzburger Psychiatriezentrum offenbar nicht. Denn immerhin hatte der ja vor dem Psychiatrie-Aufenthalt im Januar an zwei Tagen hintereinander Mitarbeiter des Obdachlosenheims und andere anwesende Personen mit einem Messer bedroht. Offenbar vor diesem Hintergrund entschloss man sich, wie die Welt berichtet, die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung anzuregen, die aber vom zuständigen Gericht mit Beschluss vom 14. April abgelehnt worden sei, da „keine ausreichenden Anhaltspunkte für das Erfordernis einer Betreuung bestanden, zumal der Betroffene trotz mehrfacher Versuche nicht angetroffen werden konnte“. Weshalb die Betreuungsstelle, die für das zuständige Betreuungsgericht Vorermittlungen anstellt, wenige Tage vor dem Attentat nun plötzlich doch noch eine „Betreuungsbedürftigkeit aufgrund psychischer Auffälligkeiten“ sah, muss offen bleiben.
Es mag sich der ein oder andere Leser fragen, ob nicht auch die Strafverfolgungsbehörden nach der zweimaligen Messer-Bedrohung hätten aktiv werden müssen. Oder gilt mittlerweile so etwas strafrechtlich bloß noch als Flüchtlings-Folklore? Aber selbst wenn es hier zu einer ganz ungewöhnlich zeitnahen strafrechtlichen Würdigung gekommen wäre, hätte das ja wohl kaum eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung bedeutet. Ganz zu schweigen von der eigentlich wünschenswerten Trias: Abklärung, Abschiebehaft, Abflug.
Hätte die rechtzeitige, also zügig nach dem Messervorfall erfolgte Einrichtung einer Betreuung das Attentat verhindern können? Nein, das halte ich für äußerst unwahrscheinlich, denn auch ein gesetzlicher Betreuer kann eine zwangsweise Unterbringung seines „Mündels“ in der Psychiatrie nur im Falle einer Eigengefährdung – mit richterlicher Genehmigung – veranlassen, nicht aber bei Fremdgefährdung. Er kann natürlich bei Gefahr im Verzug die Polizei einschalten, die dann den Betreuten eventuell in der Psychiatrie abliefert – im vorliegenden Fall wahrscheinlich mit Entlassung am nächsten Tag.
Kurz gesagt: Beim gegenwärtigen Erkenntnisstand ist ein gravierendes Fehlverhalten der beteiligten Würzburger Behörden oder auch Kliniken nicht erkennbar. Es hat sich alles so zugetragen, wie es in Deutschland nun mal vorgesehen und üblich ist. Einschließlich der mangelnden Flexibilität bei den sozialpädagogischen Mitarbeitern der Betreuungsstelle, die es nicht geschafft haben, den ja nicht nur auf der Straße, sondern auch in einem Obdachlosenheim lebenden Somalier – vielleicht einmal außerhalb der üblichen Dienstzeiten – zu kontaktieren, um so die Voraussetzungen für die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung zu schaffen. Aber, wie erwähnt, verhindert worden wäre das Attentat dadurch wahrscheinlich auch nicht.
Schuldunfähigkeit des Somaliers fraglich
Auf Grundlage der bisher vorliegenden und veröffentlichten Erkenntnisse ist es ausgesprochen fraglich, ob der Somalier seine multiplen Mordtaten und Mordversuche im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hat. Voraussetzung dafür wäre der überzeugende Nachweis, dass bei ihm während der Tat eine Psychose vorlag, deren Symptome – v. a. Wahn und/oder Halluzinationen – so stark auf ihn einwirkten, dass er nicht mehr in der Lage war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Die bei ihm mehrfach nachgewiesene und durch bestimmte Drogen ausgelöste oder verschlimmerte Psychose müsste also zur Tatzeit so aktiv gewesen sein, dass kein willentlicher Handlungsspielraum blieb, sondern er praktisch zur Tat gezwungen wurde. Dann hätte während der Tat eine ähnliche Konstellation vorgelegen wie bei dem Attentäter von Hanau, dessen chronifizierte und gleichzeitig hochakute Psychose in Form einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie ihm tatsächlich keinerlei Wahlmöglichkeit ließ.
Beim Somalier habe das toxikologische Gutachten „keine relevanten Ergebnisse“ gebracht. Das schließt einen Rauschzustand schon einmal aus und macht die Annahme einer drogeninduzierten Psychose unwahrscheinlich, ohne sie allerdings sicher auszuschließen. Denn eine zunächst nur durch bestimmten Drogenkonsum ausgelöste Psychose – mit jeweils recht rascher Besserung unter Abstinenz – kann sich bei fortgesetztem Konsum verselbstständigen und die Rückbildungsfähigkeit zumindest teilweise einbüßen. Insgesamt spricht derzeit also nicht viel für eine psychische Störung, die Schuldunfähigkeit bedingen könnte. Gleichwohl deutet die Verlegung in die Psychiatrie und die dazu abgegebene, ausgesprochen dürre Verlautbarung an, dass die Ermittlungsbehörden einseitig auf die Psychokarte setzen und eine Gesinnungstat offensichtlich so gut wie ausschließen.
Die Ermittlungs-Strategie beim Hanau-Attentäter
Im Falle des Hanau-Attentäters gingen die Ermittlungsbehörden bekanntlich nahezu entgegengesetzt vor: Trotz des erdrückenden Beweismaterials in Form der beiden „Manifeste“ des Täters, die mehr als deutlich auf eine schon länger bestehende und zur Tatzeit hochakute paranoid-halluzinatorische Schizophrenie hinwiesen, ergab bereits wenige Stunden nach der Tat die Suche nach dem Motiv ein unumstößliches und endgültiges Ergebnis: Es soll die zutiefst rassistische Gesinnung des Täters gewesen sein – und sonst gar nichts. Im Falle des mindestens seit 2001 in unterschiedlicher Intensität an einer Schizophrenie erkrankten Hanau-Attentäters kommt hinzu, dass bis heute keine überzeugenden Beweise für eine tatsächlich krankheitsunabhängige rassistische oder fremdenfeindliche Gesinnung vorgelegt wurden.
Das alles dokumentiert nicht nur die absolute Skrupellosigkeit der Verantwortlichen, sondern auch deren letztlich ja zutreffende Einschätzung der zu erwartenden Reaktion des gesamten politmedialen Komplexes, der die aus fachpsychiatrischer Sicht völlig abwegige Beurteilung des Täters sofort, ohne lästige kritische Nachfragen und mit großer Vehemenz bis heute vollständig übernahm. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Wahrheit und propagandistischer Ausschlachtung für den Kampf gegen Rechts dürfte auch der entscheidende Grund dafür sein, dass die Bundesanwaltschaft anderthalb Jahre nach der Tat immer noch keinen Abschlussbericht vorgelegt hat. Vielleicht wird es den – zumindest für die Öffentlichkeit – auch nie geben. Es wäre in der neueren deutschen Geschichte ja nicht das erste Mal, dass ein Problem einfach ausgesessen wird.
War es in Würzburg eine Gesinnungstat?
Beim Somalier dagegen scheint für die Staatsanwaltschaft die Frage nach einem in der Gesinnung – verstanden als so etwas wie die richtende Kraft im Verhalten und Handeln – zu suchenden Motiv weitgehend abgehakt zu sein. Aber ein dschihadistisches oder verwandtes oder anderes niederes Motiv ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil beim Attentäter kein entsprechendes Propagandamaterial gefunden oder keine einschlägigen Kontakte nachgewiesen wurden. Abgesehen von der Frage, ob der Somalier überhaupt des Lesens mächtig ist, ist er in seinem Heimatland doch wohl in einem Milieu aufgewachsen, das ihm sowohl bestimmte fundamentalistisch-muslimische Glaubengrundsätze als auch damit einhergehende Abwertungen von Frauen und „Ungläubigen“ vermittelt hat, einschließlich Basiswissen zum Thema Dschihad. Auch wäre er nicht der erste Mörder, der die Ursachen seines Scheiterns nach der „Flucht“ auf andere projiziert.
Wenn mit dem negativen Drogen- und Alkoholbefund nun auch noch ein zentraler Baustein für eine bei der Tat vorgelegene drogeninduzierte Psychose entfällt, hätte die Öffentlichkeit schon ein Anrecht darauf, etwas genauer zu erfahren, warum trotzdem noch eine Überstellung in die Psychiatrie erfolgt. Zumal die Tatausführung durchaus Hinweise auf eine möglicherweise zugrunde liegende Gesinnung offenbart: Der Somalier leitete das Attentat mit Allahu-Akbar-Rufen ein, griff dann offenbar gezielt (deutsche) Frauen und Mädchen an und soll bei der Festnahme gegenüber einem Polizisten gesagt haben: „Ich mache Dschihad“. Vor diesem Hintergrund könnte seine Gesinnung zwanglos charakterisiert werden als fremden- und frauenfeindlich, dabei getragen von einem Gefühl der Überlegenheit, das ebenfalls auf dem Boden von fundamentalistisch-islamischen Überzeugungen gewachsen ist.
Können Gesinnung und Psychose koexistieren?
Wäre es denkbar, dass beim Somalier beides eine Rolle spielte, eine Gesinnung und eine Psychose? Eine schwierige Frage. Bei einer akuten Schizophrenie – wie sie beim Hanau-Attentäter vorlag – mit den dafür typischen Symptomen wie (u.a.) Verfolgungswahn, Halluzinationen in Form von Stimmenhören und verschiedenen Denkstörungen ist bereits während der über Monate oder auch Jahre gehenden Entwicklung dieser Symptome die krankheitsunabhängige Gesinnung mehr und mehr verdrängt oder in ihrer Entwicklung von vornherein ausgebremst worden. In Abhängigkeit von der Wahndynamik oder auch Halluzinationen in Gestalt von befehlenden Stimmen hat die Gesinnung am Ende nichts mehr zu melden, ganz gleich wie sie ursprünglich gewesen sein mag.
Anders verhält es sich meist, wenn es „nur“ zu einer isolierten und eng umschriebenen Wahnentwicklung kommt. Bei einem Wahnkranken, der beispielsweise unverrückbar davon überzeugt ist, eine bedeutsame Entdeckung gemacht zu haben, kann die vorbestehende Gesinnung durchaus überwiegend intakt bleiben, zumindest solange sie nicht in zu enge Berührung mit dem Wahnthema gerät. Eine durch Drogengenuss ausgelöste Psychose, wie sie mehrfach beim Somalier vorlag, steht bei der Koexistenz von Gesinnung und psychischer Störung zwischen den beiden eben geschilderten Szenarien – je nach Krankheitsschwere und Ausmaß des Drogenkonsums dabei eher zu dem einen oder dem anderen Pol neigend. Will sagen: Sollten beim Somalier zur Tatzeit noch Restsymptome seiner aktenkundigen Psychose vorhanden gewesen sein, schlösse das eine Gesinnungstat keinesfalls aus.
Wahrscheinlich wird es in dem voraussichtlich im kommenden Jahr stattfindenden Prozess wesentlich um die Frage der Schuldfähigkeit gehen. Dementsprechend bedeutsam wird die Rolle der beiden von der Staatsanwaltschaft beauftragten psychiatrischen Sachverständigen sein. Leider hat die Zunft der forensisch-psychiatrischen Gutachter durch ihr kollektives Beschweigen der geradezu infamen politischen Instrumentalisierung des Hanau-Attentäters zumindest bei mir viel an Vertrauen in ihre Unabhängigkeit eingebüßt.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.