Es gibt eine Erzählung, die einem Separatstaat Katalonien einen rationalen Grund geben soll. Das ist die Erzählung vom „Wirtschaftsmotor Katalonien“, der angeblich den Rest Spaniens antreiben muss. Es soll eine spezielle und besonders moderne katalanische Nationalökonomie geben - auch eine spezielle Wirtschaftsmentalität, von der ganz Spanien zehrt. Was Spanien an wirtschaftlicher Entwicklung und an Wohlstand hat, soll es weitgehend Katalonien zu verdanken haben. Im Umkehrschluss bedeutet dieser Wirtschaftsmythos, dass Spanien als Wirtschaftsnation im Grunde gar nicht zähle, sondern nur ein unproduktiver, parasitärer „Staatsapparat“ sei, der von der Stärke einzelner Ausnahmeregionen zehre.
Merkwürdigerweise geben sich die meisten Presseartikel über den Separatismus in Katalonien damit zufrieden, ein paar Zahlen zur Stärke Kataloniens zu nennen, ohne sie in Relation zur gesamtspanischen Entwicklung zu setzen. Doch wenn man diese Relation herstellt, ist es mit dem Mythos vorbei.
Die Region mit dem zweitgrößten Außenhandelsdefizit
Die Handelsbilanzen bieten einen interessanten Einblick in die Gesamtentwicklung Spaniens und in das Geschäftsmodell der Region Katalonien. Spanien als Ganzes hat durchaus etwas vorzuweisen: Das Defizit im Außenhandel ist von 100 Milliarden Euro im Jahr 2007 auf knapp 20 Milliarden 2014 gesunken. Diese Entwicklung hat sich fortgesetzt, die Schere zwischen Import und Export hat sich weiter geschlossen. Das ist für ein europäisches Land bemerkenswert, insbesondere für ein Südland. Hat nun Katalonien daran einen besonderen Anteil? Und da reibt man sich erstaunt die Augen: Katalonien ist nach Madrid die spanische Region mit dem größten Außenhandelsdefizit. 11,7 Milliarden betrug es 2014.
Positive Bilanzen hatten Aragon, Asturien, Kantabrien, Kastilien-Leon, Extremadura, Galizien, Navarra, Baskenland, Rioja, Comunidad Valenciana. Diese Regionen (es sind bemerkenswert viele) sorgen für den Ausgleich der spanischen Außenhandelsbilanz. Schaut man in die Statistik des innerspanischen Handels zwischen den Regionen, gibt es eine zweite Überraschung: Hier hat Katalonien mit Abstand den größten Überschuss (15.064 Milliarden Euro). Demnach hängt die katalanische Wirtschaftsstärke vom innerspanischen Absatzmarkt ab. Die Region importiert Produkte und Vorprodukte aus dem Ausland, verarbeitet sie zum Teil weiter und verkauft sie auf dem Binnenmarkt. Und diese Region will sich jetzt vom spanischen Staat und von der Finanzierung der Infrastrukturen für den Binnenmarkt verabschieden!
Das Wirtschaftswachstum wird von vielen Regionen getragen
Wie sieht es bei der Wertschöpfung aus? Man sollte dabei beachten, dass es große Unterschiede zwischen den Nationen gibt, was den Ort der Wertschöpfung betrifft. In Fall Spaniens ist die Relation des Exportumsatzes zum Bruttoinlandsprodukt ungefähr 33:100 (in Deutschland sind es 46:100, in den USA 12:100, in den Niederlanden 80:100). Ein Großteil der spanischen Wertschöpfung geschieht also im Lande und Katalonien profitiert von der intern in Spanien geschaffenen Kaufkraft. Die Wachstumszahl beim BIP von 3,5 Prozent (2016), die jetzt als Beweis der katalanischen Stärke verbreitet wird (zum Beispiel vom Spanien-Korrespondenten der FAZ, Hans-Christian Rößler, am 19.9.2017), ist nicht vollständig hausgemacht und sie steht auch nicht so einsam da, wie es den Anschein hat.
Über drei Prozent Wachstum hatten 2016 11 spanische Regionen: Madrid, Katalonien, Balearen, Kastilien-Leon, Galizien, Comunidad Valenciana, Kanarische Inseln, Ceuta, Murcia, Kastilien-La Mancha, Melilla. Nur vier Regionen blieben unter dem Wert von 2,5 Prozent. Hier zeigt sich eine wichtige Eigenart der neueren spanischen Nationalökonomie. Die Disparitäten zwischen den stärksten und schwächsten Regionen sind für europäische Verhältnisse nicht besonders groß. Die Vorstellung, dass in Spanien umso schlechter gewirtschaftet wird, je weiter man von Norden nach Süden kommt, ist grob irreführend. (Eine Detailaufnahme von einer spanischen „Südindustrie“ findet sich in meinem Buch über die Schuhstadt Elche, die im Süden von Alicante liegt und den größten Teil des spanischen Schuhexports beherbergt: Gerd Held, Potentiale der kompakten Stadt, Dortmund 1998)
Kataloniens Städte verlieren an Gewicht in Spanien
Ein weiterer wichtiger Maßstab ist die Bevölkerungsentwicklung. Der Mythos Katalonien ist zum großen Teil auch ein Mythos von Barcelona, das (gefühlt) die gesamte Realität der Region ausmacht. Die Gefahr ist groß, den Augenschein der Demonstrationen in Barcelona mit der demographischen Dynamik zu verwechseln. Diese Dynamik ist woanders größer. Zwischen 1991 und 2008 wuchsen die beiden Super-Metropolen Madrid und Barcelona zusammen um 3,76 Prozent. Im gleichen Zeitraum wuchsen die 100 größten Städte Spaniens insgesamt um 11,04 Prozent. Also ein höheres Wachstum im Bereich der mittleren Großstädte und größeren Mittelstädte.
Dabei war das Wachstum in Katalonien auch geringer als in Gesamtspanien. Der Bevölkerungs-Anteil der katalanischen Städte an der Bevölkerung der 100 größten spanischen Städte betrug 1991 17,63 Prozent. 2008 war er auf 16,72 Prozent gesunken. Das ist kein dramatischer Niedergang, aber doch eine allmähliche Relativierung des einstmals großen Bevölkerungsmagneten Katalonien.
Und Barcelona? Entzieht es sich der Relativierung? Nein, denn der Bevölkerungs-Anteil Barcelonas an den katalanischen Städten sank von 1991 48,23 Prozent auf 2008 45,00 Prozent. Im gleichen Zeitraum sank der Anteil Barcelonas an den 100 größten Städten Spaniens von 8,50 Prozent auf 7,53 Prozent. Sein Anteil an den 10 größten Städten sank von 19,21 Prozent auf 17,69 Prozent.
Die am höchsten verschuldete Region Spaniens
Und noch eine Größe belegt, wie täuschend das Bild vom „Wirtschaftsmotor Katalonien“ ist: die Staatsschulden. Die Region ist die am höchsten verschuldete Region Spaniens. Nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch im Verhältnis zu seinem Bruttoinlandsprodukt (2011: 20,7 Prozent, der Durchschnitt aller spanischen Regionen betrug 13,1 Prozent). Im Jahr 2012 musste Katalonien Hilfskredite bei der Zentralregierung im Rahmen des spanischen (und europäischen) Rettungsfonds beantragen.
Vor diesem Hintergrund ist das Aufkommen des Separatismus eigentlich erstaunlich. Zumindest passt die Geschichte, dass hier eine starke Region sich von einem fußkranken, schwächelnden, ineffizienten Spanien verabschieden will, überhaupt nicht zu den harten Fakten. Nun sollte man sich davor hüten, den Mythos einfach umzudrehen und Katalonien zur Krisenregion schlechthin abzustempeln. Richtig wäre es, von einer Relativierung zu sprechen.
Die frühere Führungsrolle Kataloniens bei der Industrialisierung Spaniens hat sich relativiert und dieser Prozess setzt sich fort. Sie ist und bleibt eine wichtige Region, aber sie muss sich damit abfinden, auf Dauer nur eine unter vielen respektablen Regionen in Spanien zu sein. Genau das aber wollen die Katalanisten nicht. Deshalb versuchen sie jetzt auf Biegen und Brechen ihr Heil in einem Separatstaat. Dieser Staat ist kein wirtschaftliches Zukunftsprojekt.
Der heutige Katalanismus ist im Grunde wirtschaftsfern. Er hat nichts von jenem ökonomisch-industriellen Realismus, der früher ein Markenzeichen Kataloniens war. Er ist ein durch und durch politisiertes Projekt.
Anschluss an Macrons „Süd-Keynsianismus“?
Wenn es überhaupt eine Vorstellung von der wirtschaftlichen Zukunft eines Separatstaats Katalonien gibt – welche könnte es sein? Die bisherige Rolle als Lieferant für den spanischen Binnenmarkt kann es nicht sein. Niemals würde Spanien seine Versorgung einer Region anvertrauen, die sich gewaltsam von ihm losgetrennt hat. Und deren politische Klasse sich zu Spanien verhält, als sei es ein feindliches, diktatorisches und unterentwickeltes Land.
Was also mag in den Köpfen der Separatisten vorgehen? Vielleicht ist es folgende Spekulation: Die katalanische Wirtschaft wendet sich von ihrem Süden ab, und hängt sich an den kerneuropäischen Norden. Sie ist nicht mehr ein „Norden des Südens“, sondern ein „Süden des Nordens“. Die Region, die an der Grenze zu Frankreich liegt, ändert sozusagen die Windrichtung ihrer Ökonomie. Und damit auch ihren Charakter: Sie schielt auf die Kaufkraft des Nordens. Auf Draghis Euro-Pumpe. Und vielleicht auch schon auf das EU-Groß-Budget, das der französische Präsident Macron durchsetzen will.
Vor diesem Hintergrund erscheint die „breite Bewegung“, die in Barcelona lautstark die Straßen besetzt, in einem neuen Licht. Sie ist zum geringsten Teil eine Bewegung der industriellen Klassen (Arbeiter und Unternehmer), sondern hat ihre Hauptbastionen in Bildungseinrichtungen und in anderen öffentlichen Diensten oder Einrichtungen (Gesundheit, Sozialarbeit, Kultur), die in Spanien weitgehend regionalisiert sind. Es ist eine ähnliche soziale Basis, wie sie zum Beispiel auch in Griechenland bestimmenden Einfluss auf die Politik bekommen hat. In Spanien hat diese Bewegung nun einen separatistischen Zug bekommen.
Dass dieser Kurs ihre Region wirtschaftlich in eine Sackgasse führt, sehen die Katalanisten nicht und es interessiert sie auch wenig. Ihr Separatismus lebt mit dem Rücken zur Realwirtschaft und zur katalanischen Industrie. Das soziale Milieu, das ihn hauptsächlich trägt, ist schon daran gewöhnt, dass es „keynsianisch“ finanziert wird – durch staatliche Programme auf Pump. Deswegen schielen sie nach Europa. Und sie interessieren sich nicht für die Möglichkeiten (und Grenzen) auf einem gemeinsamen europäischen Markt, sondern für die Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank. Und für ein zukünftiges, möglichst großes, aus dem Norden finanziertes EU-Budget.
Und das Selbstbestimmungsrecht der Völker?
Es wird im Zusammenhang mit dem Katalonien-Streit viel von einem universellen „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ gesprochen, das hier gelten soll. Man kann mit der Berufung auf dies Selbstbestimmungsrecht viel Unheil anrichten, wenn man nicht nach der wirtschaftlichen und sozialen Realität fragt, die hinter dem jeweiligen Anspruch steht. Die wohlklingenden Worte „Volk“ und „Selbstbestimmung“ können eine Betrachtung der konkreten Umstände des Lebens und Überlebens nicht ersetzen. Wo nämlich der Rechtsanspruch nur eine Sache des Willens ist, ist der Weg zur Willkür kurz. Genauso kurz wie im Fall eines globalen Migrationsrechtes.
Den ersten Teil dieses Zweiteilers lesen Sie hier.