Ingo Langner im Gespräch mit Henryk M. Broder
Herr Broder, fünfzehn Jahre lang sind Sie Autor beim SPIEGEL gewesen. Seit zwei Jahren schreiben Sie für DIE WELT. In Ihrem Wikipedia-Eintrag heißt es: „Kennzeichnend für seinen Stil ist die informierte Kolumne als auch die Polemik“. Das ist überraschend milde formuliert. Denn wenn ich mich nicht irre, haben Sie sich einen Leitspruch des österreichisch-jüdischen Journalisten Anton Kuh aufs Panier geschrieben und der lautet: „Warum denn sachlich …“
„... wenn es auch persönlich geht!“
Exakt. Polemik scheint also Ihr Lebenselixier zu sein. Nun habe ich den Eindruck, daß Sie letztens in Ihrem Furor spürbar zugelegt haben. Trifft das zu?
Ja.
Und warum?
Weil ich älter werde, weil mir vieles wurscht und wurschter wird, vor allem, was die Leute von mir halten, und weil ich fürchte, dass mir nicht mehr genug Zeit bleibt, um all die zu beleidigen, die es verdient haben. Und last but not least: Weil die Verhältnisse härter geworden haben.
In wiefern?
Die Deutsche haben wieder zur Normalität gegenüber den Juden zurück gefunden. Und diese Normalität ist antisemitisch.
Woran merken Sie das?
Und anderem an den Leserbriefen, die ich auf meine Artikel bekomme, und zwar völlig unabhängig vom Thema, egal, ob ich über Island, Polen oder Bayern schreibe. Ich könnte jetzt über Ihre Frisur und Ihre Brille schreiben, und die Leute würden mich auffordern, mich zu der schrecklichen Lage der Palästinenser in Gaza zu äußern, wo es so zugeht wie früher im Warschauer Ghetto. Hinzu kommt: Früher haben de Leute meist anonym geschrieben, heute mit vollem Namen und Adresse. Beispiel gefällig?
Unbedingt!
Ein gewisser Hardy P. schreibt mir: „Sie sind ein Hetzer vor dem Herrn. Ich werde es mit Ihnen ähnlich halten wir mit Rechtsradikalen aktuell in meiner Region. Sie werden unbelehrbar als jüdischer Antisemit weiter Ihren Weg verfolgen, Menschen zu diffamieren, Haß zu schüren und Konflikte zu beschwören. Vieleicht erkennen Sie eines Tages im Spiegel Ihr Antlitz als häßliche Fratze.“ Genügt das?
Mir schon.
Das war noch relativ harmlos. Ich werde regelmäßig aufgefordert, nach Israel zu gehen. Zugleich macht man mir den Vorwurf, dass ich nach 10 Jahren Israel nach Deutschland zurück bin. Wissen Sie, egal was ein Jude macht, er kann den Antisemiten nicht zufriedenstellen. Es sei denn, dass er sich aus der Welt verabschiedet.
Wie groß ist der Anteil solcher Reaktionen?
Etwa zehn Prozent. Das heißt, das Gros der Reaktionen ist freundlich bis kritisch, aber nicht bösartig. Immerhin.
Nun sind das Ihre Themen - deutsche Geschichte, Israel, der Nahe Osten…
Ja, aber auch alles andere wird mit der „judenkritischen“ Lupe durchleuchtet. Ein paar Tage vor den Wahlen in den USA habe ich eine Gruppe von Romney-Wählern in Atanta getroffen und darüber geschrieben. Eine rein deskriptive Geschichte, ohne jeder Wertung. Prompt wurde mir unterstellt, ich sei gegen Obama, weil er nicht unbedingt der beste Freund Israels ist. Das ist nur noch obsessiv. Das war schon beim SPIEGEL so, und das ist auch bei der WELT nicht anders. Meine Leser denken Tag und Nacht rund um die Uhr an die entrechteten Palästinenser, leiden mit ihnen und versäumen keine Gelegenheit, sich mit den Opfern der zionistischen Unrechtspolitik zu solidarisieren. Das Schicksal der etwa 800.000 vertriebenen Palästinenser, deren Zahl sich seit Ende der 40er Jahre auf eine wundersame Weise verfünffacht hat, lässt Franz Alt nicht schlafen, Norbert Blüm nicht kegeln, Rupert Neudeck nicht schweigen und Konstantin Wecker nicht schnaufen. Nur das, was in Syrien passiert, geht ihnen am Arsch vorbei, denn dort sind keine Juden beteiligt. Aber warten Sie ab: Wenn in Aleppo eine Jaffa-Orange gefunden wird, wird der antizionistisch-antisemitische Shitstorm gleich losbrechen. Denn die Gutdeutschen achten darauf, wie Wolfgang Pohrt mal geschrieben hat, daß die Juden nicht rückfällig werden.
Sie sagen, die Verhältnisse haben sich geändert. Was ist die Ursache dafür?
Der zeitliche Abstand zum Holocaust. Wobei ich schon verstehe: Die Deutschen können nicht ewig auf der Anklagebank sitzen. Sie können nicht ewig Sühne leisten.
Walter Rathenau, der am 24. Juni 1922 von Rechtsradikalen ermordete deutsche Außenminister, kämpfte nahezu lebenslang um das Recht ein „vollwertiger“ Deutsche zu sein. Rathenau war für die restlose Assimilierung. Dafür steht sein Satz: „Ich bin zwar Jude, aber durch und durch Deutscher“.
Ja, da ist Rathenau einem tödlichen Irrtum aufgesessen. Er hat am Ende mit seinem Leben dafür bezahlt. Antisemitismus ist ja kein exklusiv deutsches Problem, er ist ein Teil der europäischen Identität. Einige der führen zeitgenössischen Antisemiten sind der britische Bischof Richard Williamson, sein Landsmann, der Historiker David Irving, und der ehemalige holländische Ministerpräsident Dries van Agt. Dagegen sind Horst Mahler und Holger Apfel kleine Karos. Der Antisemitismus ist auch keine stabile Größe, er hat mal mehr und mal weniger Konjunktur. Die geht rauf und runter. Ganz verschwinden wird der Antisemitismus nie. Aber eines muss man Deutschland zugute halten: Der Antisemitismus nicht mehr salonfähig. Es sei denn, er kostümiert sich als „Antizionismus“.
Wie sieht es denn international mit dem Antisemitismus aus?
Auch nicht viel besser. Der Antisemitismus ist ein Weltkulturerbe. Er sollte unter den Schutz der Unesco gestellt werden.
Warum gibt es denn Antisemitismus überhaupt? Was ist seine Ursache?
Darauf hat der Soziologe Gunnar Heinsohn eine kluge Antwort gegeben. Er hat mehr als drei Dutzend unterschiedliche Theorien des Antisemitismus untersucht. Die überzeugendste war: Die Juden haben das Menschenopfer abgeschafft und damit die Religion um einen Riesenspaß ärmer gemacht. Das verzeiht man uns nicht.
Die israelische Historikerin Shulamit Volkov hat ein Buch über Walter Rathenau geschrieben. Und ganz am Schluß heißt es da als Fazit, Rathenaus Leben war das „eines Deutschen und eines Juden, der mit seiner zweifachen Identität kämpfte, aber darauf bestand, daß beides vereinbar war.“ Hat man als Jude immer und überall automatisch eine zweifache Identität?
Bei allem Respekt vor Frau Volkov: Das mit den zwei Identitäten ist dummes Soziologengeschwätz. Jeder Mensch hat mehrere Identitäten. Sie zum Beispiel sind Deutscher und Katholik und waren einmal Protestant. Das sind schon mal drei Identitäten. Alle Menschen haben mehrere Identitäten. Aber nur bei den Juden wird es zur Causa gemacht.
Sie reisen sehr viel. Sie Kommen im Ausland offenbar gut zurecht. Warum ziehen Sie nicht aus Deutschland weg? Haben Sie keine Angst, daß sich die Shoa hier wiederholt?
Nein. Geschichte wiederholt sich, aber nicht am selben Ort. In Deutschland werden keine KZs gebaut und ein Völkermord findet hier nicht statt. Dafür gibt es andere Orte auf der Welt. Ruanda zum Beispiel. Oder Darfur. Aber die Deutschen rufen dreimal am Tag „Nie wieder 33!“ und kämpfen gegen ein fiktives Viertes Reich. Johannes Gross hat immer gesagt: „Je länger das Dritte Reich zurückliegt, desto größer wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“
Auch Günter Grass holt den Widerstand nach, den er damals nicht geleistet hat.
Genau. Grass ist das Protobeispiel für den Deutschen, der sich zu seiner „historischen Verantwortung“ bekennt und gleichzeitig den Juden schon mal vorsorglich die Schuld für den 3. Weltkrieg in die Schuhe schieben will.
Kürzlich hat man mit deutschlandweiten Demonstrationen den sogenannten 1. Jahrestag der Aufklärung der NSU-Morde begangen. Was sagt uns das?
Daß die Deutschen nichts mehr als ihre Gedenkkultur lieben. Trotz der NSU-Morde: Ich bleibe dabei, die Neonazis sind ekelhaft, widerlich und eine punktuelle Gefahr, vor allem im Osten der Republik. Politisch aber irrelevant. Ein Problem für die Polizei, nicht für die Politik. Damit werden sie nur aufgewertet.
Das sieht Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und Vizepräsidentin des Europäischen Jüdischen Kongresses anders.
Nicht alle Juden sind genial.
Ist das alles?
Wissen Sie was ein Dhimmi ist?
Dhimmis waren in der arabischen Welt des Mittelalters Monotheisten mit einem eingeschränkten Rechtsstatus. Praktisch also alle Juden und Christen. Sie mußten zwar eine besondere Kopfsteuer zahlen und durften keine Waffen tragen. Auch galt ihr Zeugnis vor Gericht weniger als das eines Moslems. Aber sie waren geschützt. Ihr Status war auf jeden Fall besser als der eines Hindus. Das waren rechtlose Ungläubige.
Sie haben sich informiert. Deshalb wissen Sie auch, daß es im bürgerlichen Recht der Bundesrepublik keinen Dhimmi-Status gibt. Gleichwohl gibt es unter den hier lebenden Juden Dhimmis. Mein Freund Michael Wolffsohn ist ein Dhimmi, weil er sich immer wieder bei Deutschland dafür bedankt, daß er als Jude in Deutschland leben darf, ohne daß ihm ein Haar gekrümmt wird. Das ist so, als würde sich eine Frau bei ihrem Mann dafür bedanken, daß er sie nicht schlägt. Auch Charlotte Knobloch ist eine Dhimmi. Sie hat sich bei dem Kölner Verleger Neven DuMont dafür bedankt, daß er ihr einen netten und vollkommen unverbindli-chen Brief geschrieben hat: „Frau Knobloch, wir wollen Sie!“. Sie schrieb zurück: “Ihre Worte machen mir Mut und lassen mich meine fast verloren geglaubte Hoffnung wieder spüren.” Das ist Dhimmitude a la carte. Wäre ich ein jüdischer Dhimmi, dann würde ich mich jetzt bei Ihnen dafür bedanken, daß Sie mit mir ein Interview machen. Doch ich bin kein Schutzbefohlener, sondern ein Citoyen, der Rechte hat wie alle anderen Bürger auch.
Warum sind die Juden nach der Shoa wieder nach Deutschland zurückgekommen? Ein Mysterium?
Eher eine pathologische Dummheit. Wenn man seine eigene Hinrichtung überlebt hat, zieht man hinterher nicht in das Haus des Henkers. Genau das haben die Juden nach 1945 getan. Damit konnten sie eine moralische Überlegenheit gegenüber den Deutschen erlangen. Die edlen Opfer, die den Tätern vergeben. Und die Deutschen haben als Gegenleistung die Absolution bekommen. Und jetzt, ich sagte es schon, passen die Deutschen darauf auf, daß die Juden nicht rückfällig werden, indem sie die Palästinenser so behandeln, wie die Nazis die Juden behanelt haben. Das ist die deutsch-jüdische Symbiose im 21. Jahrhundert.
Dann muß ich noch einmal fragen, warum Sie hier leben.
Warum sollte ich nicht? Ich bin mit elf Jahren ungefragt mit meinen Eltern nach Deutschland gekommen. Jetzt bin ich voll germanisiert. Außerdem halte ich mich oft im Ausland auf: Island, Israel, USA, Holland.
Was meinen Sie mit germanisiert?
Deutsch sein bedeutet, den Widerspruch genießen, dem man nicht entkommen kann. Das ist wie in einer Ehe: Man arbeitet sich an den Problemen ab, die man ohne die Ehe nicht hätte.
Sind Sie religiös?
Nein. Aber ich bete täglich, immer vor dem Essen: „Sie haben versucht, uns umzubringen. Sie haben es nicht geschafft. Lasst uns essen!“
Theologisch gesehen sind die Juden das auserwählte Volk Gottes. Und Gott ist treu. Er löst den Alten Bund nicht auf.
Ja. Aber ich will aus dem Vertrag raus. ER soll sich ein neues Volk suchen. Wie wäre es mit den Türken?
Eine leicht gekürzte Fassung des Gesprächs ist in der Würzburger “Tagespost” vom 10.11.12 erschienen.