Ingo Langner im Gespräch mit Andreas Nachama
Rabbi Nachama, am 26. Juni 2012 kommt ein Kölner Landgericht zu dem Urteilsschluß, daß religiöse Beschneidungen von Jungen eine „rechtswidrige“ und damit strafbare „Körperverletzung“ darstellen. Schwerer als die Religionsfreiheit wiege das Selbstbestimmungsrecht des Kindes. Wie denken Sie über dieses Urteil?
Wenn man es ganz genau nimmt, geht es nicht um Beschneidung, sondern um Religionsfreiheit: Es ist schon immer so gewesen, daß Religionen in der Minderheit vor einer Mehrheitsmeinung geschützt werden mußten. Im Mittelalter wie heute. Ich bin der Meinung, dieses Urteil hätte nicht gesprochen werden dürfen. Und ich bin übrigens fest davon überzeugt, daß der Kölner Richter wußte was er tat. Ein Ausrutscher war das nicht. Dagegen spricht schon die Wahl des Gutachters, dessen religionsfeindliche Haltung bekannt war. Dieses Urteil ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar und – bei aller Unabhängigkeit, die einem Richter grundsätzlich zusteht – dieser Richter sollte seines Amtes enthoben werden.
Ist das genau die Art von menschenrechtsfreundlichem säkularem „Fortschritt“ auf den Sie als deutscher Rabbiner schon immer gewartet haben?
Wenn es etwas gibt, was nach der Shoa in Deutschland nicht möglich ist, dann, daß ein deutsches Gericht jemals ein Urteil über Judentum als Ganzem fällt. Das ist auch der Grund, warum der Grundgesetzartikel über Religionsfreiheit nicht wie bei den anderen Grundrechten mit dem Satz ergänzt ist “das Nähere regelt das Gesetz”. Ich glaube mich erinnern zu können, daß in den Protokollen des parlamentarischen Rats eben auch stand, daß eine gesetzliche Einschränkung der Religionsfreiheit nach dem Mord an den europäischen Juden nicht getan werden kann.
Sind Sie als Rabbiner an rituellen Beschneidungen von jüdischen männlichen Babys beteiligt?
Ja, gewiß. Seit meiner Amtseinführung vor 12 Jahren habe ich etwa 100 Beschneidungen liturgisch begleitet.
Und hat sich seit dem Kölner Urteil etwas an der üblichen Praxis geändert?
Allerdings. Ein Elternpaar zog es wegen der aktuellen Rechtsunsicherheit vor, ihren Sohn in benachbarten Polen beschneiden zu lassen. Und vom Jüdischen Krankenhaus in Berlin, das bislang jedes Jahr 60 bis 70 religiös begründete Beschneidungen machte – bei jüdischen wie muslimischen Jungen –, hört man, das es, wie andere Kliniken auch, derzeit darauf verzichtet.
In der Debatte um die rituelle Beschneidung von Jungen warnt der Leiter des Deutschen Kinderschmerzzentrums, Boris Zernikow, vor einer Veränderung des Gehirns durch den Beschneidungsschmerz. “Es kann sich ein Schmerzgedächtnis bilden”, sagte er dem “Spiegel”. Studien hätten gezeigt, daß beschnittene Kinder ohne ausreichende Schmerztherapie bei späteren Impfungen mehr Schmerz empfinden. “Ihre Schmerzschwelle ist signifikant niedriger”, so Zernikow.
Nun, ich bin nicht nur Rabbiner, sondern auch der Direktor der Berliner Topographie des Terrors. Unlängst hatten wir hier eine Ausstellung, deren Thema die Verbrechen deutscher Kinderärzte während der NS-Diktatur war. Es hat ganze 70 Jahre gedauert, bis sich die Standesorganisation der deutschen Kinderärzte für diese Verbrechen entschuldigt hat. Und nun kommen die heutigen Kinderärzte und erheben sich über die essentiellen rituellen Grundlagen des Judentums und des Islams, also über gleich zwei Weltreligionen. Diese Leute sollten sich schämen.
Die Deutsche Presseagentur meldet, daß fast die Hälfte der Bundesbürger ist für ein Verbot ritueller Beschneidungen von Jungen sei. Konkret heißt es dort: In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Nachrichtenagentur dpa sprachen sich 45 Prozent dafür aus, der Jahrhunderte alten islamischen und jüdischen Tradition einen Riegel vorzuschieben. 42 Prozent waren gegen ein Verbot, 13 Prozent hatten keine Meinung zu dem Thema. Und wer sich im Internet die Kommentare zum Thema anschaut, wird feststellen, daß sich dort Antisemitismus und Religionsphobie die Hand reichen.
Das Kölner Urteil hat die Büchse der Pandora geöffnet, das steht für mich fest. Da wird sichtbar, was bislang im Verborgenen Sumpfblüten trieb. Sie müssen sich ja auch nur einmal gewisse Karikaturen zum Thema anschauen. Da kommen Erinnerungen an das NS-Blatt „Der Stürmer“ hoch.
Hat es sie überrascht, daß beispielsweise die FAZ das Kölner Urteil zunächst geradezu begeistert als eine Art Meilenstein für den säkularen Rechtsstaat begrüßt hat?
Wissen Sie, eigentlich betrifft die Beschneidung diese Leute doch gar nicht. Das erinnert mich an gewisse Zeitungspolemiken von Laien gegen das Zölibat. Das geht doch eigentlich nur katholische Priester etwas an. Mir zeigt diese Art antireligiöser Polemik am Punkt der Beschneidung, daß diese Leute die Bürde der Shoa abstreifen wollen. Ähnliche Versuche kennen wir ja.
Wie wird es weitergehen? Wird es zukünftig für Juden nicht mehr möglich sein, in Deutschland zu leben?
Wenn das Kölner Urteil zum allgemein üblichen Maßstab werden würde, dann müßten wir auswandern. Aber so weit wird es nicht kommen. Deutschland bleibt eine Demokratie. Und die Religionsfreiheit wird erhalten bleiben - zumindest was die großen Weltreligionen angeht.
Wird man als nächste die christliche Taufe zur säkularen Disposition stellen?
Nein, das glaube ich nicht. Aber man wird die religiöse Bestimmung von Jugendlichen grundsätzlich in Frage stellen. Der säkulare Staat will einheitlich konfigurierte jungen Menschen schaffen, die wenn sie dann alt genug sind, sich für eine Religion entscheiden zu können. Vielleicht wird man gewisse Teile der Bibel aus dem Alten und Neuen Testament auf einen säkularen Index stellen. Ironisch gefragt: Gibt es da nicht viele biblische Geschichten die Traumata auslösen könnten? Was läge also näher, als die Lektüre der Bibel bis zur Volljährigkeit zu verbieten? Ich halte ein solches Szenario für schon bald möglich - und das sage ich in vollem Ernst.