Ingo Langner
Wer mit dem Instrumentarium eines Ethnologen die Wahlerfolge der Piratenpartei und die damit einhergehenden Diskussionen über die sogenannten neuen sozialen Netzwerke analysiert, wer dabei beobachtet, mit welcher Intensität, Inbrunst und ideologischem Eifer man da ums „world wide web“ kreist, der könnte zu dem Schluss gelangen, dass das Internet nicht bloß eine Technologie ist, sondern ein gottähnlicher Heilsbringer, den inzwischen nicht nur all jene anbeten, die sich zur Generation der „digital natives“ – die also von Geburt an mit dem Internet aufgewachsen sind – zählen und die diesen Kultus nun auch mit jakobinischem Eifer von all denen verlangen, die, mit dem Makel der zu frühen Geburt versehen, noch im „analogen Zeitalter“ geboren wurden und all dem medialen Getue und Weihrauchschwenken ums „www“ reserviert gegenüberstehen.
Besonders der mit außerordentlicher Schärfe geführte Streit ums Urheberrecht macht deutlich, dass die überhebliche Arroganz, mit der die „Digitalen“ den „Analogen“ die Welt erklären, der arroganten Überheblichkeit gleicht, mit der die europäischen Kolonialherren einst in Afrika und Amerika auf die „primitiven Neger“ und „kriegslüsternen Indianer“ herabgeblickt haben.
Doch das Internet ist keine Gottheit. Es ist eine Maschine. Mehr nicht. Und obwohl eine aktuell sehr lautstarke Minderheit es augenscheinlich nicht wahrhaben will: auch wer permanent „online“ ist, wird eines Tages sterben – und zwar nicht in der wunderbaren neuen, der „virtuellen Welt“, sondern in dieser, der uralten, der „analogen“.
Scheinbar ist das Modewort unserer Zeit. Überall wird es gern in den Mund genommen. Leider fast immer dann, wenn statt scheinbar der Gegenbegriff anscheinend richtig wäre. Den erheblichen Unterschied zwischen den beiden Adjektiven nicht mehr zu wissen, ist eine der häufigsten sprachlichen Fehlleistungen unserer Gegenwart.
Wer den Versuch unternimmt, auf diesen Unterschied zwischen dem Schein und dem Anschein aufmerksam zu machen und ihn mit Beispielen erläutert – „Anscheinend dreht sich die Sonne um die Erde. Doch wir wissen, dass sie es nur scheinbar tut.“ – stößt oft auf völliges Unverständnis und nicht selten sogar auf ein aggressives Abwehrverhalten. Woher rührt das Bedürfnis, an unpassender Stelle scheinbar zu sagen, wenn es richtig anscheinend heißen müsste? Ist das „nur“ eine von vielen derzeit grassierenden Sprachschlampereien? Oder steckt wesentlich mehr dahinter?
Gibt es für dieses Phänomen möglicherweise eine tieferliegende Ursache? Ist vielleicht sogar das Internet und das damit einhergehende „Surfen“ und „Abtauchen“ in „Scheinwelten“ zumindest partiell dafür verantwortlich, weil die „Besuche im Virtuellen“, je länger je mehr, den Kontakt zur wirklichen Wirklichkeit erst erschweren, dann temporär unterbrechen und schließlich völlig auflösen – und dann nicht mehr der Schlaf der Vernunft Ungeheuer erzeugt, sondern das Unvermögen, den Unterschied zwischen dem Realen und dem Virtuellen noch erkennen zu können?
Der Philosoph Robert Spaemann erklärt seine, wie er es nennt „Zuwendung zum philosophischen Leben“, mit seinem elementaren Urinteresse für „die Verteidigung von Selbst-Sein“. Dabei geht es ihm „um die Unterscheidung von Sein und Schein, von Wirklichkeit als Selbstsein und Simulation“ und um die Frage, ob es diesen Unterschied und so etwas wie Selbstsein überhaupt gibt.
Es liegt auf der Hand, dass gerade diese Frage auch auf den Kern all jener Probleme zielt, die mit der globalen Verbreitung des Internets und dem damit einhergehenden Phantom einer „virtuellen Welt“ zusammenhängen, die die alte analoge Welt angeblich zwar noch nicht vollständig ersetzt hat, aber gerade dabei ist, es zu tun.
Nun wird Virtualität gemeinhin als die Eigenschaft einer Sache definiert, die nicht in der Form existiert, in der sie zu existieren scheint. Gleichwohl ist „virtuell“ nicht das Gegenteil von „real“ – obwohl manche das annehmen – sondern das Gegenteil von „physisch“.
Dies vorausgesetzt, ist es also gar nicht mehr so erstaunlich, dass Robert Spaemann „den Anfang einer virtuellen Welt“ schon in jenen süddeutschen Barockkirchen erspürt hat, in denen einige Engelsfiguren im Altarraum nur eine schöne Vorderseite haben und hinten hohl sind, also den Anschein der Vollständigkeit bloß simulieren. Während im Gegensatz dazu in den gotischen Kathedralen auch noch jene Skulpturen perfekt ausgeführt wurden, die für das menschliche Auge fast unsichtbar in den höchsten Höhen der Bauwerke ihren Platz haben. Sie sind nämlich für Gottes Augen geschaffen worden, den zu täuschen sich die mittelalterlichen Baumeister nicht nur aus rechtschaffenen Glaubensgründen versagten, sondern auch deshalb, weil es dem innersten Wesen ihres Zeitalters, das ein eminent philosophisches war, widersprach.
Für den mittelalterlichen Menschen war die Welt kein wissenschaftliches Phänomen, sondern eine Tatsache des Glaubens und ihre geistige Richtschnur das: Ich will nicht erkennen, um zu glauben, sondern glauben, um zu erkennen. Denn eher wird die menschliche Weisheit sich selbst am Felsen des Glaubens zerschellen, als diesen Felsen einrennen.
Egon Friedell hat hellsichtig erkannt: „Die damaligen Menschen waren noch frei von dem modernen Aberglauben, dass der ausschließliche Zweck menschlichen Denkens und Forschens eine möglichst lückenlose Durchdringung der Erfahrungswelt sei.“
Friedell korrigiert auch den weitverbreiteten Irrtum, dass es gewisse epochale Erfindungen sind, die erst das Leben und dann das Innere des Menschen verändern, sondern dass es sich genau umgekehrt verhält: Weil die Menschen sich mit der Zeit in ihrem Denken und Fühlen verändern, erfinden sie sich genau die „Dinge“, die zu ihrem neuen Fühlen und Denken passen.
Eines dieser „Dinge“, die das Mittelalter von der Neuzeit scheiden, ist die Druckerpresse. Genauer gesagt, sind es die verschiebbaren Lettern, für die bekanntlich Johannes Gutenberg als ihr Erfinder in die Geschichte eingegangen ist. Was mit der Scheidelinie gemeint ist, wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, dass im Mittelalter alles fest, gegeben, statisch, konventionell war und mit den Gutenbergschen Lettern jetzt alles flüssig, variabel, dynamisch, in einem Wort: individuell wird. Friedell hat also völlig recht, wenn er die verschiebbare Letter für das Symbol des Humanismus hält.
Allerdings erkennt er auch deren Kehrseite. Denn von nun an, so Friedell, „wird auch alles mechanisch, dirigierbar, gleichförmig, uniform. Jede Letter ist ein gleichberechtigter Baustein im Organismus des Buches und zugleich etwas Unpersönliches, Dienendes, Technisches, Atom unter Atomen. Es muss eben in Natur und Geschichte immer für alles bezahlt werden.“ In diesem Fall ist es die Individualität des neuzeitlichen Menschen, die die mittelalterliche Persönlichkeit von ihrem Platz verdrängt.
Es ist bezeichnend, dass es in der Volksfantasie jahrhundertelang nicht Gutenberg war, der die Buchdruckerkunst erfand, sondern Faust, der Goldmacher und Schwarzkünstler, der Theologe und Protestant, der Landsmann Melanchthons und Zeitgenosse Luthers. Jener Faust also, der sich dem Teufel verschrieb und den Johann Wolfgang von Goethe vom Himmel durch die Welt und beinahe sogar zur Hölle fahren ließ. Wie gut das Gewerbe, Bücher mit beweglichen Lettern zu drucken, zum Faustischen passt, wird offenkundig, wenn man bedenkt, dass gerade diese Erfindung den postparadiesischen, selbstherrlichen Trieb des Menschen nach geistiger Expansion auf eine bis dahin nicht vorstellbare Weise sättigen konnte.
Wer unter diesem Aspekt aufs Internet schaut, wird mühelos zu dem Schluss kommen, dass es sich um so etwas wie die Buchdruckerkunst in Potenz handelt. Denn das Internet hat dem grenzenlosen menschlichen Erkenntnisdrang, jenem von jeher allgegenwärtigen Grundzug der Neuzeit, der übrigens seit anno Faust von dem naiven Glauben beseelt ist, dass es geheime Formeln gäbe, die „auf alles“ eine Antwort geben werden, neue Nahrung gegeben.
Rad, Dampfmaschine, Atomkraftwerk: Es hat ungemein viele technische Errungenschaften gegeben, die die Lebenswelt der Menschen gründlich verändert haben. Aber trotz aller Innovationen: Keine dieser Erfindungen, hat nicht einmal Kommunisten auf die Idee gebracht, dass sie das Menschenrecht auf Eigentum in Frage stellen und damit eine wesentliche Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft aus den Angeln heben könnten.
Auf diesen absurden Einfall sind erst die „Piraten“ gekommen. Für „Piraten“ ist das Internet nämlich keine Maschine, sondern ein Gott, der alles neu macht – und sie sind seine Propheten. Dass diese Hohepriester einer angeblich wohltätigen Basisdemokratie – in der die totalitäre Losung „Transparenz“ alles regieren soll – bloß die nützlichen Idioten für milliardenschwere Internetkonzerne wie Google oder Facebook sind, kommt ihnen nicht in den Sinn. Vielleicht sollte es ihnen jemand mal twittern.