Ingo Langner
Vera Lengsfeld lässt nicht locker. Nachdem sie bereits 2002 mit „Mein Weg zur Freiheit“ Biographisches veröffentlicht hatte, liegt nun im 21. Jahr nach dem Ende der DDR und anscheinend unverdrossen mit „Ich wollte frei sein. Die Mauer, die Stasi, die Revolution“ eine komplett überarbeitete Neuauflage ihres ersten Freiheitswegebuches vor.
Ja, möglicherweise ist diese Publikation jetzt tatsächlich bereits so etwas wie das definitive Lebensbuch der 1952 im thüringischen Sondershausen geborenen deutschen Bürgerrechtlerin. Gewissermaßen für Nachgeborene geschrieben, die einen unverschleierten Blick auf jene zweite deutsche Diktatur werfen wollen, die sich selbst – lächerlich, aber wahr und ganz und ganz im Sinne eines Zynismus á la Orwell – eine demokratische Republik zu nennen beliebte.
Müssen wir uns also Vera Lengsfeld als einen glücklichen Menschen vorstellen? Zwar wälzt sie mit ihren Büchern und dem dazugehörigen Lebensmotto „Freiheit und Fairness statt Gleichheit und Gerechtigkeit“ wie einst der legendäre Sisyphos aus Homers „Odyssee“ einen Felsblock, der immer wieder herabrollt, jeden Tag neu auf einen hohen Berg hinauf; doch wie in Albert Camus’ „Mythos von Sisyphos“, dessen Schlusssatz wir hier in Frageform paraphrasiert haben, ist Vera Lengsfeld, die unentwegt und mit äußerster Energie das scheinbar Sinnlose tut, ein Bild des heldenhaften Menschen schlechthin. Für Camus war die Welt, in die wir hineingestellt sind, ein steinern Ding, und deswegen konnte dort all unser und für Camus „an sich“ sinnloses Handeln auch nur allein seiner Intensität nach beurteilt werden.
Für Vera Lengsfeld allerdings scheint die Welt alles andere als unwandelbar zu sein. Die Lengsfeld gehörte nämlich nicht zu den sogenannten Berliner Mauerspechten, die gefahrlos und fröhlich Löcher in den am 9. November 1989 fallenden „Antifaschistischen Schutzwall“ pickten. Sie war ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und auch das Gute schafft und mithin im kommunistischen Jargon der Ulbrichts, Mielkes und Honeckers zum „Lager der reaktionären Konterrevolution“ gehörte. Aus der Sicht dieser roten Diktatoren war sie das Grundübel, ja, der Abschaum schlechthin. Doch weil Vera Lengsfeld nicht in eine Dissidentenfamilie hineingeboren wurde, sondern – ganz im Gegenteil – ihre Eltern linientreue Parteigenossen waren und ihr Vater sogar im Ministerium für Verteidigung seinen Arbeitsplatz hatte, wurde sie wahrlich nicht mit der Milch der frommen Denkungsart genährt, sondern von früh an zur klassenbewussten Sozialistin erzogen.
Was in der Freizeit begann: „Die Eltern meiner Klassenkameraden waren alle in der SED, mit Ausnahme des Vaters von unserem Klassensternchen Monika, der im Vorstand der Bauernpartei war, was mir sehr exotisch vorkam“, das wurde in der Schule selbst auf Linie getrimmt. Allerdings nicht unbedingt nur zur Freude der kleinen Vera: „Der Schulalltag war streng geregelt, regelmäßige Fahnenappelle, die ich besonders hasste, wenn sie vor der ersten Stunde stattfanden. Bei diesen Appellen wurde ritualisiert der DDR die Treue geschworen und gelobt, den Aufbau des Sozialismus mit ganzer Kraft zu unterstützen. (...) Das Ganze zog sich oft über eine halbe Stunde hin, was im Winter besonders unangenehm war.“
Frühkindliche Irritationen können bekanntlich eine besondere Langzeitwirkung entfalten. Und möglicherweise hat sich der Imagewechsel Stalins tiefer in die Psyche eines achtjährigen Schulkindes eingebrannt, als es selbst damals geahnt hat: „Einmal allerdings gab es eine starke Erschütterung. Als ich morgens am (Ostberliner) U-Bahnhof Stalinallee ankam, waren die Stationsschilder abmontiert. Im Zimmer der Freundschaftspionierleiterin war das Stalinbild verschwunden. Einen Appell gab es nicht, aber auf Nachfrage erklärten unsere Lehrer, es hätte sich nunmehr herausgestellt, dass Stalin ein Verbrecher gewesen sei. Genaueres erfuhren wir nicht.“
Daheim selbst ist es dann so, dass die ratlose Mutter Lengsfeld nicht nur pflichtschuldigst die gesammelten Stalinbände entsorgt, sondern sicherheitshalber auch jene Bücher, auf denen neben den Köpfen von Marx, Engels und Lenin auch das Konterfei Stalins abgebildet ist. Wen solche Schilderungen an die Jugenderziehung, Führerkult und Gestapoangst in Hitlers NS-Reich erinnern, der liegt gewiss nicht daneben. Der „Antifaschismus“ der DDR war von Anfang an eine ideologische Spottgeburt. Was Vera Lengsfeld nicht immer, aber immer öfter zu dämmern beginnt. Und es sind ausgerechnet die Reisen der Heranwachsenden in die Sowjetunion, die erste echte Zweifel am System an und für sich wecken. Denn gegen die offenkundige Armut und Unfreiheit „im gelobten Land“ ist die DDR noch Gold.
Was im Laufe der Jahre alles zusammenkam und zusammenkommen musste, um aus der trotz alledem und alledem immer noch brav mitmarschierenden Linientreuen eine widerständige Bürgerrechtlerin zu machen, die für ihre Überzeugung sogar ins Gefängnis zu gehen bereit ist, schildert Vera Lengsfeld detailliert und mit einer Lakonie, ja, manchmal sogar mit einer Prise Heiterkeit, die ihr aufklärendes Buch auch zu einem Lesevergnügen macht.
Was überdies besonders berührt, ist die Art und Weise, wie Vera Lengsfeld uns mitteilt, dass sie ihrem geschiedenen Ehemann inzwischen vergeben hat. Diese Vergebung gilt einem Mann, der – heute fatalerweise mit „einer Art galoppierendem Parkinson“ an den Rollstuhl gefesselt – seine eigene Frau jahrelang im Auftrag der Staatssicherheit perfide bespitzelt hat. „Seine Krankheit brach meine Versteinerung ihm gegenüber auf. Er war ein Stasispitzel, jetzt ist er der hilfebedürftige Vater meiner Kinder. Dass ich ihm verzieh, war für mich keine Frage. Er war immerhin einer der wenigen Stasispitzel, die es wenigstens eingestanden haben. Diese Ehrlichkeit schadet ihm bis heute, während die leugnenden Stasispitzel ehrenvolle Positionen bekleiden.“
Nach der Lektüre dieses großartigen Buches drängt sich vielleicht nicht nur dem Verfasser dieser Rezension die Frage auf, ob manche Menschen zum Freiheitskämpfer geboren werden. Womöglich findet welche Wissenschaft auch immer irgendwann einmal eine Art Freiheitsgen. Vera Lengsfeld, so scheint es jedenfalls, ist als eine Freiheitsliebende auf die Welt gekommen. Oder um es in ihrer eigenen, unverwechselbaren Tonart zu sagen: „Die notorische Behauptung aller DDR-Nostalgiker lautet: ,Es war nicht alles schlecht in der DDR.‘ Das stimmt. Denn es gab uns Bürgerrechtler. Wir waren das Beste, was die DDR je zu bieten hatte.“
Vera Lengsfeld: Ich wollte frei sein. Die Mauer, die Stasi, die Revolution. Herbig Verlag 2011, 336 Seiten mit Abbildungen, ISBN: 978-3-7766-2669-8, EUR 19,99