In keinem Land der Welt gibt es so viele Wahlen wie in der Bundesrepublik. Eigentlich eine feine Sache. Doch die durchschnittliche Wahlbeteiligung sinkt Jahr für Jahr auf ein neues Rekordtief. Bei der Europawahl stimmten vermutlich weniger Bundesbürger ab als bei „Deutschland sucht den Superstar“. In der Werbung ist dieses Phänomen als der Marmeladenglas-Effekt bekannt: Je mehr Marmeladensorten angeboten werden, desto seltener greifen die Leute zu.
Selbst diejenigen, die sich Monat für Monat zur Wahl schleppen, nehmen die Sache nicht sehr ernst. Bei der letzten Hessenwahl hörte ich, wie einer aus der Kabine rief: „Sagt mal einer STOP…“ Auf die Frage: „Glauben Sie Politikern?“ antworten nur 15 Prozent uneingeschränkt mit „Ja“. Und die müsste man im Grunde genommen zum Arzt schicken. Sogar Gebrauchtwagenhändler oder Neun-Live-Moderatoren genießen mittlerweile ein höheres Ansehen als unserer Politiker.
In den 70gern war das noch ganz anders. Unter Willy Brandt lag die Wahlbeteiligung bei 91,1 Prozent. In der DDR haben sogar 99,8 Prozent der Bevölkerung gewählt. Heute ist der Anteil der Nichtwähler etwa so hoch wie die, die CDU wählen.
Ein Grund für die allgemeine Politikverdrossenheit ist sicherlich die Arbeitseinstellung unserer Volksvertreter. Früher gab es noch echte Vollblutpolitiker: Wehner, Strauss, Schmidt, Brandt. Sogar Helmut Kohl war einer. Doch dann kam die Ära, in der sich immer mehr Karrieristen durchsetzten. Goldene Zeiten, in denen man ohne Schulabschluss nur durch Steinewerfen und Taxifahren Außenminister werden konnte. Inzwischen sind die wichtigsten Kriterien im politischen Tagesgeschäft nicht Tatkraft und Ideen, sondern Beliebtheitswerte. Demoskopie statt Demokratie.
Eine Idee, die zugegeben nicht ganz neu ist. Bereits in der Antike beklagte Platon, dass Sophisten wie Gorgias oder Protagoras den politischen Emporkömmlingen Rhetorikunterricht gaben und damit die Redekunst von der Wahrheitssuche abkoppelten. Kleines Beispiel gefällig? Was hat vier Beine, ein Fell, jagt in der Nacht Mäuse und macht Miau? Ein rhetorisch geschulter Politiker verkauft ihnen dieses Tier problemlos als einen Fuchs mit Fremdsprachenkenntnissen.
Doch es ist extrem heikel, Politiker nur nach Sympathien auszusuchen. Denn wenn es nur nach Beliebtheit geht, dann sitzen irgendwann mal die Pokemons im Bundestag. Genau genommen tun sie das ja auch schon. Menschen, die nach der Maxime handeln: „Es reicht nicht nur, keine Idee zu haben, man muss sie auch schlecht umsetzen können.“
„Alle Macht geht vom Volke aus“ heißt es in unserem Grundgesetz. Doch das ist Unsinn. Über die Hälfte der Bundestagsabgeordneten, die in ihren Wahlkreisen durchgefallen sind, sitzen trotzdem im Parlament, weil sie sich über einen willkürlich bestimmten Listenplatz „hineingemogelt“ haben.
Dadurch wird auch dem naivsten Bürger klar: Wählen reduziert sich in Deutschland auf den bloßen Vorgang, den Stimmzettel in eine Pappschachtel zu werfen. Der Begriff „Wahlurne“ klingt nicht wie zufällig nach Krematorium.