Die deutschen Schlagzeilen, dass England völlig isoliert sei, hat im britischen Denken eine kongeniale Entsprechung: Europa völlig isoliert. Sie folgt dem alten Britenscherz, der so geht: Nebel über dem Kanal. Kontinent völlig abgeschnitten.
Von der Insel aus sieht man manches eben anders.
Dazu gehört, dass David Cameron der Held der Saison ist, der Retter der Londoner City, der David gegen den kontinentalen Goliath, der Superman, der den europäischen Drachen zwar nicht getötet, ihm aber die Stirn geboten hat. Kurz: Premierminister David Cameron ist Margaret Thatcher in leicht veränderter Gestalt.
Dies ist die schönste Rolle, die ein Politiker in England spielen kann. Als ich vor vielen Jahren meinen ersten Job in London antrat, waren die Briten gerade der Europäischen Union beigetreten und schon mussten die Befürworter wieder für den Verbleib in der Union kämpfen. Sie trugen Bekenner-Buttons am Revers und stemmten sich mit ihnen mutig den insularen Europa-Gegnern entgegen. So ähnlich ist es bis heute geblieben. Und so wird es wohl auch bleiben.
Was ist geschehen in der großen europäisch-britischen Krise? Die Briten machen bei den verpflichtenden Maßnahmen nicht mit, die vor allem der Euro-Rettung dienen. Das ist keine Sensation, da sie ja ohnehin nicht zur Euro-Zone gehören, sondern ihrem schönen, traditionsreichen Pfund treu geblieben sind, was ihnen niemand verübeln kann. Hat David Cameron vor, aus dem europäischen Verein, dem das Königreich angehört, auszutreten? Keineswegs. Er hat den knorrigen EU-Gegnern in seiner Partei und in der übrigen britischen Bevölkerung gezeigt, dass er kein Schoßhund der Europäer ist. Aber das muss genügen. Die Europäische Union ist auch für London zu wichtig, als dass man ihr leichtfertig den Rücken kehrte.
Richtig ist, dass England ein schwieriger Partner sein wird. Neu ist das aber auch nicht. Die Briten waren schon immer schwierige Europäer. Und, um einen volkstümlichen Berliner zu zitieren, das ist auch gut so. Wenn Brüssel etwas dringend braucht, dann sind es ein paar widerborstige Leute im Klub.
Die Widerborstigkeit der Briten hat viele Gründe. Fangen wir einfach mit Deutschland an. Die Briten mögen Deutschland, aber in Grenzen. Ein allzu starkes Deutschland weckt unangenehme, aber auch stolze Erinnerungen. Da wird ein aufrechter Brite schnell zum Churchill, der seinerzeit den Hitler-Deutschen entgegen geschleudert hat: „Wir werden auf den Meeren und den Ozeanen kämpfen. Wir werden an den Stränden kämpfen. Wir werden auf den Feldern und in den Straßen kämpfen. Wir werden auf den Hügeln kämpfen. Wir werden uns niemals niemals ergeben.“ Und, um nochmals den Berliner zu zitieren: Auch das war gut so.
Zur britischen Folklore gehört, dass die Briten mit ihrem Churchill eben tapferer Hitler widerstanden als die Franzosen. Dabei wird die Tatsache, dass sie auf der Insel eine etwas bessere Ausgangsposition hatten als die Franzosen meist nicht allzu groß herausgestellt.
Daraus ergibt sich, wenn man an die psychologische Nachhaltigkeit von Geschichte glaubt, dass die Briten in Nicolas Sarkozy und Angela Merkel ein etwas ungleiches Paar sehen. Man hält die deutsche Kanzlerin für etwas gleicher als den französischen Präsidenten. Mit Frankreich hat man zwar vor gar nicht langer Zeit die alte Entente Cordiale wiederbelebt, aber sie befindet sich politisch in einer zombiehaften Trance. Die französische Power nimmt man nun mal weniger ernst als die deutsche.
Zwar lacht man auch gerne über die Deutschen. Oder genauer: über Hitler. Er ist in den Augen die Briten, vor allem der britischen Journalisten, mit den Deutschen so untrennbar verbunden wie Herr Müller-Lüdenscheid mit Loriot. Das heißt: vor allem als Witzfigur, die ihnen das Lachen über die Deutschen ermöglicht, was ohne den Schnurrbarträger nicht ganz so leicht wäre. Wie soll man sonst über diese tüchtigen, bierernsten Deutschen lachen? Vielleicht darüber, dass sie so tüchtig und bierernst sind? Das ginge, aber Hitler ist leichter.
Neben der Geschichte gibt es eine andere wirtschaftspsychologische Sache. Der Kanal trennt das angelsächsische Laissez Faire vom kontinentalen Etatismus. Die Briten (ganz amerikanisch) lassen seit Thatcher der Wirtschaft lieber freien Lauf. Nicht (nur) weil sie gerne Messies sind, sondern vor allem, weil sie glauben, dass es so besser läuft. Auf dem Kontinent sehen sie einen allzu lenkenden Staat, der die Menschen zwar sozial sichert, aber auch bevormundet.
Wer hat recht? Tja. Beide haben recht. In der derzeitigen Lage spricht wohl mehr für den kontinentalen Aktionismus. Es gibt aber auch Zeiten, in denen die staatlichen Lenker mehr Belästigung als Gutes bringen und die britisch-amerikanische Freiheitlichkeit ihre Stärke entfaltet. Allerdings hat sie in den letzten Jahren auf geradezu groteske Weise ihre Schwäche entfaltet und die Regulierer als Retter in der Not auf den Plan gerufen.
Zu erwähnen bleibt noch, dass der Finanzplatz Frankfurt der größte Konkurrent des Finanzplatzes London ist, was den Streit um die Regulierung der Finanzwirtschaft nahezu unlösbar macht. Auch hier also wieder ein deutsch-britisches Thema. Aber auch diese Konkurrenz ist ein alter Hut. So ist es insgesamt mit der britisch-europäischen Krise: Sie enthält viel neue Aufregung, aber noch mehr uralte Befindlichkeiten.