Beim Thema Rauchen gehen die Uhren anders und die Sicherungen durch. Es muss schon etwas an sich haben, das Inhalieren mehr oder weniger giftiger Substanzen, das über rein gesundheitliche Aspekte weit hinaus geht, wenn sich Institutionen und Politik derart eifrig und penetrant einzumischen aufgefordert fühlen. Noch jede Spur potenzieller Giftigkeit wird zur massiven Bedrohung der Gesundheit aufgeblasen, jede Relation zu anderen Schadstoffbelastungen außer Acht gelassen - es muss nur inhaliert werden und roter Alarm ist die Folge; auch im Dampf von Leitungswasser würden noch bedenkliche Inhaltsstoffe gefunden werden, die zur Regulation animieren. Garantiert. Voraussetzung: Das bewusste Inhalieren zu nichtmedizinischen Zwecken. Deswegen geht es beim Rauchen, egal ob traditionell oder mit dem Verdampfer der E-Zigarette, nicht um empathische Sorge um die Gesundheit von Mitmenschen, sondern um die düsteren Winkel sozialer Kontrolle. Die demonstrative Autonomie des Rauchens, das Inhalieren und Ausatmen geisthafter Schwaden, macht es einzigartig und löst den Raucher aus seinem Umfeld, er tut, was er tut, nur für sich und zu eigenen Entspannung, das Andere, dem er sich zuwendet, betritt gleichsam den Raum. Und dem stets warnenden, regulierenden, kontrollierenden Geist ist es nicht willkommen. Das Tabu des Todes, der Endlichkeit des Lebens, flüstert in jeder Nikotinschwade. Der Raucher versteht die Worte und erkennt ihre Poesie - das ist die Provokation, nicht der Schadstoffgehalt an sich. Rauchen ist Todesverachtung im Angesicht des Todes und alles, was danach aussieht, auch die E-Zigarette, zitiert seine Unumgänglichkeit; und zeigt, das menschliches Leben mehr sein will als Körperfunktion. Das spirituelle Vakuum in saturierten Industriestaaten korreliert mit einer immer größer werdenden Lebenserwartung. Sie ist einer der zentralen Parameter moderner Zivilisation. Nicht um Jahrzehnte geht es mehr, sondern um Jahre, vielleicht werden es bald Monate sein, denn Statistik wird mehr und mehr zur Kunstform. Die Selbstbezogenheit und Ignoranz des Rauchens passen nicht in die sozialen Schemata, die immer nur Förderlichkeit und Produktivität unterstützen und das Individuum an genauestens gemessener Abweichung vom rechten Pfad der Tugend beurteilen - also bis ins hohe Alter sorgsam gepflegter Körperfunktion als sozialem Zweck schlechthin. Es ist nichts anderes als totalitär, den Menschen als Eigentum der Gesellschaft zu sehen. Wer raucht, begeht nach puritanischer Lesart Selbstmord auf Raten, und medizinisch gesehen ist das noch nicht einmal falsch. Dadurch wird es spirituell aber nicht richtig.
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