Vera Lengsfeld / 29.10.2009 / 17:52 / 0 / Seite ausdrucken

Das China-Wunder

Peking

Wer, wie ich, Peking vor sechs oder mehr Jahren besucht hat, erkennt die Stadt kaum wieder. Aus der eher unansehnlichen kleinen Schwester von Shanghai ist eine staunenswerte Metropole geworden. Vielleicht ist für den westlichen Geschmack zu viel abgerissen worden. Aber wer hinter die Kulissen der romantischen Hutongs geschaut hat, mit ihren Häusern ohne Wasseranschluss, den kommunalen Toiletten am Ende der Straße, kann den Drang der Chinesen verstehen, diese Vergangenheit hinter sich zu lassen. Selbst die modernisierten Exemplare kommunaler Toiletten sind noch abschreckend genug. Es gibt keine Einzelkabinen. Man hockt , nur durch eine etwa 50 cm hohe Wand getrennt, nebeneinander. Meist über den traditionellen Löchern im Boden. Nur am Ende der Reihe gibt es ein westliches Toilettenbecken für die Touristen. Toilettenpapier muß man mit bringen. Ein Handwaschbecken gibt es nicht.
In den Hutongs , die stehen bleiben, sind nur die Fassaden noch original. Das Innenleben der Häuser verändert sich bis zur Unkenntlichkeit. Modernster Standard , wo früher nicht mal ein Wasseranschluss vorhanden war. Vor sechs Jahren waren , abgesehen von den großen Magistralen, noch die Fahrräder das Hauptverkehrsmittel auf den Straßen. Sie sind fast vollständig von den Autos verdrängt worden, wobei das durchschnittliche Pekinger Auto größer und neuer ist als das in einer westeuropäischen Großstadt. Fahrradrikschas sind hauptsächlich für Touristen da und teurer als Taxis. Ab und zu sieht man noch Last- Fahrräder, meist beladen mit Abrissmaterial aus den Hutongs.
Die Paläste und Tempel der Stadt sind aufs Feinste restauriert. Die kaiserlichen und kommunalen Parkanlagen sorgfältig gepflegt. Das alles wird nicht nur von Ausländern bewundert. Tausende chinesische Touristen sind unterwegs, auch außerhalb der so genannten „Goldenen Wochen im Anfang Oktober und Anfang mai, in denen das ganze Land Ferien macht. Inländer sind das wichtigste Klientel der Tourismusbranche. Im Kaiserpalast kann hat man Schwierigkeiten, die Hauptattraktionen in Augenschein zu nehmen , so dicht sind sie umlagert. Nur in den Nebenhöfen, etwa für die Konkubinen, die Eunuchen oder die kaiserlichen Beamten, ist es etwas ruhiger. Hier kann man in Ruhe einen Blick in die Wohnräume mit ihren staunenswerten Schätzen werfen.
Der Haupteingang zur Verbotenen Stadt, die heute allem Volk zugänglich ist, befindet sich am Platz des Himmlischen Friedens, der keine Spuren des Dramas aufweist, das sich vor zwanzig Jahren hier abgespielt hat. Allerdings kann man den Platz nur nach einer Kontrolle betreten. Er ist weiträumig eingezäunt. Vielleicht sollen damit ähnliche Demonstrationen, wie sie 1989 hier stattgefunden haben, verhindert werden. Über dem Eingang zur Verbotenen Stadt prangt noch ein Bild des „Großen Führers“ Mao, der dazu verurteilt ist, auf sein überdimensionales Mausoleum zu schauen. Das größte Mausoleum der Welt auf dem größten Platz der Welt. Mehr Kommunismus ist weder im Stadtbild von Peking, noch sonst irgendwo in China zu entdecken. Die Kommunistische Partei gibt es natürlich, sie zieht auch nach wie vor die meisten Fäden, bevorzugt es aber, im Hintergrund zu bleiben.
Wir steigen auf den Kohlenberg. So genannt, weil an dieser Stelle die Kohlen für die Paläste der Verbotenen Stadt gelagert wurden. Heute ist hier ein wunderschöner Park, dessen Mittelpunkt der mit einem Aussichtstempel gekrönte Berg ist. Von oben hat man einen wahrhaft atemberaubenden Blick auf die Stadt, die sich scheinbar endlos nach allen Seiten erstreckt. In der Ferne verschwimmen die Hochhäuser im Dunst. Die Luftverschmutzung ist nach wie vor dramatisch. Verbirgt sich hinter dem Horizont das vernachlässigte Peking?
Wir wollen es genau wissen und steigen in die U-Bahn. Wie auf dem Flughafen muss das Handgepäck durchleuchtet werden. Auf großen Hinweisschildern wird klar gemacht, dass Messer, Pistolen, gefährliche Gegenstände nicht mitgeführt werden dürfen. Die U- Bahn ist nicht nur blitzsauber, sondern auf dem neuesten Stand der Technik. Auch Ausländer können sich problemlos informieren. Während der Fahrt wird nicht nur angezeigt, wo man sich gerade befindet, sondern auch, welche Umsteigemöglichkeiten bestehen. Auffällig ist die Jugend der Fahrgäste. Die Generation unter 30 ist unterwegs. Wir fahren 10 Stationen und steigen in einem der Außenbezirke aus. Hierher verirrt sich kaum eine Langnase, wie die Weißen spöttisch genannt werden. Die Hauptstraße, von der gefühlten Breite des Yangzi, sechs Spuren in jeder Richtung, ist für Fußgänger unüberwindbar. Man ist auf Unterführungen,  die mehr als hundert Meter lang sind, angewiesen. Als wir an eine Kreuzung kommen, ist die so riesig, dass wir fast eine Viertelstunde brauchen, um die Hälfte davon zu umrunden. Die ältesten Hochhäuser,  an der Straße sind höchstens vor zwei Jahrzehnten gebaut worden. Im Unterschied zum Stadtzentrum ist es hier nicht mehr ganz so sauber, aber die Menschen sind gut gekleidet. Die Geschäfte sind keineswegs ärmlich. Auch hier keine Spur mehr vom Realsozialismus. Statt dessen alle paar Meter ein Hotel, ein neuer Supermarkt, eine Baustelle. Dazwischen Wohnhäuser. Hier lebt die arbeitende Bevölkerung Pekings. Die Restaurants sind gut frequentiert, die Garküchen am Straßenrand sowieso. Nur die Wanderarbeiter scheinen weder die einen, noch die anderen zu besuchen. Sie sind in Gruppen unterwegs, mit wasserdichten Industriesäcken auf der Schulter, in denen sich offensichtlich ihre Habseligkeiten befinden. Manche hocken in Gruppen unter den Bäumen am Straßenrand,  essen, klönen, oder spielen Brettspiele. Inzwischen ist es Nacht. Wo schlafen diese Leute? In Peking können wir dieses Rätsel nicht lösen.
Am Ende unserer Entdeckungstour setzen wir uns in ein Straßenrestaurant. Das Angebot an Fleischspießen und Fischgerichten, begleitet von frischem Gemüse, das ebenso wie alles andere unter freiem Himmel zubereitet wird, sieht verlockend aus. Wir sind aber noch gesättigt vom Abendessen in der Touristenkneipe, wo man jeden Happen von einer Drehscheibe angeln muss. Also nur Bier. Das chinesische Bier ist schwächer als das deutsche, dafür aber sehr erfrischend und nach deutschem Reinheitsgebot gebraut. Anschließend bringt uns ein Taxifahrer für 4 € durch halb Peking sicher ins Hotel.
Peking ist so groß, dass man das Umland fast vergisst. Dabei ist es problemlos auf einer der vielen frisch gebauten Autobahnen zu erreichen. Wir fahren nach Westen ins Kirschtal im Distrikt Mentougou. Das Tal befindet sich am Fuße des Miaofeng-Berges. Vor Zeiten hatte hier ein Kaisertempel gestanden, nach dem das Dorf benannt wurde, das heute Kirschdorf heißt. Seit dreizehn Jahren werden im malerischen Südkessel Kirschen gezüchtet, auf wieder hergestellten traditionellen Terassen. Inzwischen sind schon dutzende Sorten angesiedelt worden, neue und alte Züchtungen. Mittendrin steht die Ruine des Hauses des letzten Kaiser-Lehrers. Irgendwann wird es abgerissen oder restauriert, das ist noch nicht entschieden. Die Arbeiter der Musterplantage wohnen in frisch gebauten Häusern, die so neu sind, dass an den Fenstern noch die Schutzfolien kleben. Wir dürfen zwei Wohnungen besichtigen. Ein riesiger Flachbildfernseher fällt als erstes ins Auge. Er steht, wie die übrigen Möbel, etwas beziehungslos im Raum. Alles wirkt frisch ausgepackt und nie benutzt. Wird uns hier ein Potjomkinsches Dorf vorgeführt? Nicht ganz. Die Siedlung ist tatsächlich ganz neu. Ein Musterdorf, eine Blaupause für das chinesische Dorf der Zukunft. Neben der Kirschzucht ist Tourismus das zweite Standbein. Erholung für die gestressten Großstädter von nebenan. Die Ferienhäuschen liegen etwas weiter unten, inmitten von Bächlein, Teichen und chinesischer Gartenkunst. Die Ferienstimmung kommt schon bei den ersten Schritten in die Anlage auf. Wir werden in den Mehrzwecksaal gebeten, wo wir Kirschwein und Likör kosten müssen. Das die Anlage aber nicht ganz auf dem neuesten Stand der Technik ist, wird mir klar, als ich später sehe, dass unsere Gläser in Waschschüsseln , die auf einen Tisch des Saales gestellt wurden, gespült werden. Macht der Gewohnheit? Ich bin sicher, dieser Mangel wird bald behoben werden.

Xi’an

Die alte Kaiserstadt darf bei keiner Chinareise mehr fehlen, seit die Terrakotta- Armee entdeckt wurde. Dabei ist das Grab des ersten Kaisers von China nur eines von vielen. Die meisten sind noch nicht ausgegraben. Aus Beschreibungen weiß man, was im Augenblick noch verborgen ist: eine riesige unterirdische Palastanlage samt ewigen Wasserspielen aus Quecksilber, bevölkert von Menschen und Tieren, gesichert durch eine Selbstschussanlage aus vergifteten Pfeilen. Wann das mal ausgegraben werden kann, ist unklar. Was schon zu sehen ist, ist sensationell genug. Die Terrakotta- Krieger, die es zu Weltruhm gebracht haben und die inzwischen Weltkulturerbe geworden sind, waren im Originalzustand bemalt. Allerdings ist die Farbe bald nach der Ausgrabung verblasst. Inzwischen kann man dank einem deutschen Siegellack bei Neuausgrabungen die Bemalung konservieren. Auf Fotos sehen diese Krieger so lebensecht aus, dass man sie für richtige Menschen halten könnte. In einem anderen Kaisergrab wurden tausende Figuren gefunden: Eunuchen, Konkubinen, Beamte, Tiere.
Die menschlichen Figuren sind nackt, weil ihre Kleidung längst verrottet ist. Auch die Arme fehlen, weil sie aus Holz gefertigt waren. Ansonsten ist jedes Detail des Körpers sorgfältig ausgearbeitet. Man kann die Eunuchen von den Männern deutlich unterscheiden. Die Chinesen, die in der Zeit der Revolutionsgarden Maos fast all ihrer Antiquitäten beraubt worden sind und die ihre große Geschichte vergessen sollten, sind heute wieder sehr stolz auf ihre Vergangenheit und präsentieren sie aufwändig. Die Anlagen sind auf dem neuesten Stand der Museumsdidaktik. Durch die Ausgrabungen wird ersetzt, was durch politischen Fanatismus verloren ging. Das Schicksal meint es gut mit den Chinesen.
Wie sehr sich die Einstellung zur Vergangenheit gewandelt hat, können wir sehen, als wir die Wildganspagode, das Wahrzeichen Xi‘ans besuchen. Die Pagode wurde im Jahre 652 errichtet für wertvolle Sanskrit-Texte, die ein Mönch von einer Pilgerreise nach Indien mitgebracht hat. Wer sich die Mühe macht, die Pagode zu besteigen, hat einen atemberaubenden Rundblick über die Stadt, die bei Sonnenuntergang besonders schön erstrahlt. Um die Pagode herum befindet sich ein Tempel mit dazugehörigem Garten.
Verlässt man die Anlage durch den Haupteingang, denkt man auf den ersten Blick, ein Stück Altstadt vor sich zu haben. Beim näheren Hinsehen gewahrt man, dass es sich um Neubauten im traditionellen Stil handelt. Geschäfte und Restaurants unter geschwungenen Dächern säumen eine riesige Grünanlage mit Wasserspielen und dutzenden überlebensgroßen Figuren in historischen Gewändern. Wir rätseln, was das sein könnte. Ein Themenpark mit Motiven aus der chinesischen Geschichte? Damit lagen wir fast richtig. Es handelt sich um ein Geschenk der Regierung an das Volk, anläßlich des 60. Jahrestages der Volksrepublik China Anfang Oktober. Keine Figuren aus der ruhmreichen Geschichte der kommunistischen Bewegung, sondern chinesische Kaiser und Philosophen. Deutlicher kann der Wandel nicht dokumentiert werden.
Wir laufen die vier Kilometer bis zur Stadtmauer, hinter der sich unser Hotel befindet. Es ist Samstagabend. Alle Bewohner scheinen auf den Beinen und auf der Straße zu sein. Die Busse sind so voll, dass keine Stecknadel zwischen den Passagieren mehr zu Boden fallen kann. Der Spaziergang wird zum Hindernislauf, weil uns so viele Menschen entgegenkommen, dass wir immer wieder auf die Straße ausweichen müssen. Ein Taxi ist nicht zu kriegen, weil jedes verfügbare Gefährt besetzt zu sein scheint.
Schließlich gelangen wir doch noch ins muslimische Viertel, das quicklebendige Zeugnis der multikulturellen Tradition der Stadt. Der Nachtmarkt beginnt gerade. Farben, Gerüche und Geräusche vermischen sich zu einer Symphonie die unsere Sinne betört. Wir schauen, riechen, schmecken und haben das Gefühl, doch das meiste zu verpassen.
Nach einigem Suchen finden wir die Moschee, die an einen chinesischen Tempel erinnern soll. Wir können es nicht überprüfen, denn das Tor zum Gelände ist fest verschlossen. Dann verirren wir uns in den Gassen. Es wird immer ärmlicher, dunkler, die Restaurants weichen Garküchen. Männer hocken auf dem Boden oder kauern auf Schemeln. Der Müll verdichtet sich zu Haufen, in denen einige Gestalten wühlen, die man lieber nicht zum zweiten Mal anguckt. Aber kaum fängt man an , sich unbehaglich zu fühlen, sieht man ein Licht in der Nähe. Keine 50 Meter weiter berühren die Füße, die eben noch der Kloake ausweichen mussten,  poliertes Granitpflaster auf dem Gehsteig.
Man ist zurück in Glitzerchina.

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