Boris Johnson geht, wie er gekommen ist – als Kämpfer. Er hat sich in das Amt des Premierministers hineingekämpft, indem er seine glücklose Vorgängerin Theresa May niedergekämpft hat. Jetzt geht er nach knapp drei Jahren und macht doch als „dead man walking“ noch eine Weile weiter. So lange, bis seine Partei-Freund-Feinde einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin gefunden haben. Das dauert längstens bis Oktober, wenn sich Englands Konservative zu ihrem Parteitag versammeln. Es kann aber auch ziemlich schnell gehen, falls sich die Unterhausabgeordneten seiner Partei zügig auf ein neues Gesicht einigen.
Denn von ihnen hängt erst einmal alles ab. Boris Johnson hat bis zuletzt auf sein eindrucksvolles Mandat gepocht, das seiner Partei vor knapp drei Jahren die größte Mehrheit seit Margaret Thatcher beschert hat. Er hat das zu Recht als ein persönliches Mandat verstanden. Als ein Mandat für den Mann, der nach traumatischem Hin und Her endlich den Brexit über die Bühne gebracht hat. Aber Boris Johnson ist kein amerikanischer Präsident. Direkt gewählt werden nun mal die Abgeordneten, und erst die heben ihren Frontmann auf den Schild.
Oder sie lassen ihn fallen, was nun geschehen ist. Nicht nur haben seine Hinterbänkler ihm in Scharen das Vertrauen entzogen, auch seine Minister, wichtige und weniger wichtige, sind ihm dutzendweise davongelaufen. Johnson wurde zu einem Kaiser ohne Kleider, aber er kämpfte weiter, wollte weitermachen, um seine Agenda durchzuziehen.
Dazu gehörte nicht nur, den Brexit, der sich zunehmend als problematisch erweist, zu retten. Johnson hatte sich auch vorgenommen, den vernachlässigten englischen Norden aufzupäppeln, nachdem es ihm mit seiner Brexit-Politik gelungen war, jede Menge Labour-Wähler zu sich herüberzuziehen. Um diese Gewinne abzusichern, wollte er die schiefe englische Landschaft, mit ihrem reichen Süden und armen Norden, wirtschaftlich begradigen. Eine geradezu sozialdemokratische Gerechtigkeitspolitik, die ihn als einen nicht gerade typischen, aber umso populäreren Konservativen auswies.
Warum liefen ihm seine Leute davon?
Ganz als Churchill wiederum gab er sich, als Russland die Ukraine überfiel und er schneller und entschlossener als andere Europäer, vor allem als die deutsche Regierung, die ukrainischen Freiheitskämpfer mit Waffen unterstützte. Diesen energischen Einsatz versteht er als historische Lehre aus der Appeasement-Politik Neville Chamberlains gegenüber Hitler. Und das machte seinen Kampf um seinen Verbleib in Downing Street durchaus glaubwürdig. Auch die Aufbauhilfe für den Norden Englands ist eine große Aufgabe, die er nun als Vermächtnis weiterzugeben versucht. Dass er einfach nur am Amt hing, wie gern gesagt wird, ist bestenfalls die halbe Wahrheit.
Warum liefen ihm trotz der Leistungen, die er durchaus vorzuweisen hat, seine Leute davon? Weil er sich zu viele persönliche Fehler geleistet hat. Downing Street wurde zu einem Ort der Skandale und Skandälchen, die Johnsons Integrität und Glaubwürdigkeit schrittweise untergruben. Und seine persönlichen Unzulänglichkeiten hatten massive politische Konsequenzen. Der Mann, der den Tories eine riesige Mehrheit geholt hat, musste erleben, wie bei Nachwahlen ein scheinbar bombensicherer Wahlkreis nach dem anderen verloren ging. Im Unterhaus begann das große Zittern: Wie sicher ist mein Sitz bei der nächsten Wahl, fragten sich viele Hinterbänkler.
Zuletzt stürzte Johnson über eine Farce: Er hatte einen Politiker, der als grabschender Wiederholungstäter bekannt war, in ein wichtiges Amt gehoben. Seine Entschuldigung, er habe von den sexuellen Übergriffen seines Protégés nichts gewusst, wurde scheibchenweise als falsch entlarvt. Leugnen und überführt werden – das waren nach und nach die Markenzeichen seiner persönlichen Amtsführung geworden. Karikaturisten stellten ihn als Pinocchio mit der langen Nase dar.
Keine Träne im Auge wie bei Theresa May
Nur so ist es zu erklären, dass Johnson wegen eines homosexuellen Grabschers sein Amt verliert, an das er sich so kämpferisch klammerte. Und kämpferisch gab er sich auch, als er vor die in der Downing Street versammelten Medien trat, um seinen schrittweisen Rücktritt bekannt zu geben. Keine Träne im Auge wie bei Theresa May, als sie aufgeben musste. Johnson, der nun ebenso schnell gehen muss wie seinerzeit die Frau, die er weggeboxt hat, sprach stolz und selbstbewusst von seinen Leistungen, auch wenn er „traurig“ war, „das beste Amt der Welt“ verlassen zu müssen. Aber, so sagte er etwas bissig, „der Herden-Instinkt ist mächtig. Wenn die Herde ihren Weg geht, dann geht sie ihren Weg.“
Immerhin hat er ausgehandelt, den Übergang noch selbst als Premierminister managen zu dürfen, obwohl dies auch einer seiner Stellvertreter hätte machen können. Und diese Gnadenfrist bleibt umstritten. Die Opposition im Unterhaus geißelt diese Absprache als Hohn, und auch die Konservativen sind in der Sache gespalten. Es wird Versuche geben, die Zeit mit Johnson noch vor der Sommerpause zu beenden. Aber das wird nicht ganz einfach. Die Regeln sehen vor, dass Kandidaten und Aspiranten in der Fraktion so lange ausgesiebt werden, bis zwei übrigbleiben. Und die beiden stellen sich dann den Parteimitgliedern. Das kann sich hinziehen. Es sei denn, der Fraktion gelingt es, sich schnell auf einen Nachfolger zu verständigen. Dann muss das Parteivolk nicht mehr langatmig gefragt werden.
Allerdings gibt es mindestens ein Dutzend, die sich berufen fühlen. Und dann ist da noch die Frage, in welcher Richtung es weitergehen soll. Und wieder ist der Brexit die Gretchenfrage. Johnson hat für seinen harten Brexit die breite Unterstützung gehabt, die Theresa May nicht finden konnte. Sie wollte einen politischen Brexit, sich wirtschaftlich aber eng an den Binnenmarkt und die Zollunion der EU anlehnen. Die Frage ist, ob nach der Ernüchterung, die der bisherige Brexit-Verlauf bei vielen erzeugt hat, die Zeit für eine Annäherung an die EU gekommen ist. Michael Heseltine, ein konservatives Urgestein, hält die Zeit für reif. Aber er gehört der Thatcher-Ära an. Inzwischen ist auch in dieser Sache die Herde ihren Weg gegangen.
Dennoch heißt es nicht nur: Wer folgt auf Boris Johnson? Es heißt auch: Bleibt der Brexit hart oder wird er unter neuer Führung weicher und pragmatischer? Es geht also auch um dieses zentrale Vermächtnis, mit dem sich Johnson ins Amt gekämpft hat.