„Es sind hundertsechs Meilen nach Chicago. Wir haben genug Benzin im Tank, ein halbes Päckchen Zigaretten, es ist Nacht und wir tragen Sonnenbrillen“. Als atmosphärische Einstimmung auf Chicago sollte man unbedingt den Kultfilm „Die Blues Brothers“ sehen. Irgendein Zitat wird immer passen. Wer an einem Freitagabend zum ersten Mal in die Windy City kommt und direkt am Loop, dem Hochbahnring, im Stadtzentrum eintrifft, wird zunächst denken, er sei in einer amerikanischen Kleinstadt gelandet, so ruhig ist. Und dabei gilt doch Chicago als die „Second City“, die zweite Großstadt schlechthin gleich nach New York. Aber Chicago ist nicht New York. Das Getriebe bis in die frühen Morgenstunden, das freundliche Gewimmel von abertausenden Cafés, Delis und Einzelhandelsgeschäften fehlt hier fast völlig. Während eines mehrtägigen Aufenthaltes fragt man sich, wo um alles in der Welt die Chicagoer ihre Lebensmittel einkaufen. Erst ein Blick vom Willis Tower am helllichten Tag enthüllt das Geheimnis der großen Stadt am Michigansee: Ihre ungeheure Ausdehnung. Während in New York eigentlich niemand, der bei klarem Verstand ist, Auto fährt, sind die Bewohner von Chicago auf das Auto angewiesen, so wie die meisten Amerikaner. Alles Chicago, so weit das Auge reicht. Chicago kann sich auch den großen Luxus von Backstreets leisten – hinter den Häuserblocks gelegenen Straßen, die einzig dem Zweck dienen, dass Müllwagen, Möbellaster und Lieferanten dort vorfahren können, ohne den fließenden Verkehr zu behindern. Der Michigansee verliert sich irgendwo am Horizont; er könnte genauso gut das Schwarze Meer sein oder die Ostsee. Es fällt schwer zu glauben, dass seine blauen Wogen nicht salzig sind.
Chicago ist eine architektonische Wundertüte: Vestibüle von Frank Lloyd Wright, Fassaden von Mies van der Rohe, Glasfenster von Tiffany erwarten den ehrfürchtig staunenden Besucher.
Auf den Plätzen stehen riesige Plastiken von Calder und Picasso. Im ehemaligen Gebäude des berühmten Kaufhauses Marshall Field, inzwischen Macy’s, breitet sich ein herrliches Glasmosaik über die Kunden wie ein Märchentraum aus tausendundeiner Nacht. „Also, mir persönlich wäre das zu übertrieben!“ höre ich eine deutsche Stimme mit rheinischem Einschlag hinter mir sagen – ganz so, als stünde Louis Comfort Tiffany schon in den Startlöchern, der Dame die Wohnung umzudekorieren. Wie in New York sind viele der Chicagoer Hochhäuser zwischen 1890 und 1930 entstanden. Es sind grandiose Gesamtkunstwerke in hervorragend erhaltenem oder restauriertem Zustand, in die sich jede Fliese, jeder Mauerstein, jedes Glasornament harmonisch einfügt. Man kann sich kaum satt sehen an ihnen.
Ein Stadtteil, die Southside, scheint sogar ganz woanders zu liegen, weit draußen im Süden. Dorthin fährt man mit der Metra, einer Art Vorortszug. Der Architekturbegeisterte, der sich diese Mühe macht, sucht die im wundervollen Prärie-Stil erbauten Häuser von Frank Lloyd Wright. Die Southside ist der Sitz der University Of Chicago und außerdem ein riesiges, grünes Wohnviertel mit zaunlosen Grundstücken und schönen, großen Villen; hier und da eine Perle von Wright dazwischen. Aber das ist nicht alles:
Dort steht auch das Haus von Präsident Obama. Der Block ist komplett und weiträumig abgesperrt. Das Viertel ist zwar überwiegend von Afroamerikanern bewohnt, aber hier verbreitet sich mitnichten das Ghetto-Feeling von Harlem oder Brooklyn: Es sind die palastartigen Häuser der Superreichen, die hier stehen. Die wenigen Geschäftsstraßen, die dazwischen liegen, werden im drei Jahre alten Reiseführer noch als belebte Viertel mit Cafés und interessanten Läden gepriesen. Aber die Hälfte der Geschäfte steht inzwischen leer. Am Bahnhof Hyde Park isst man im Diner „Valois“ riesige Omelettes und saftige Rippchen. Obama hat das Lokal immer gern frequentiert, bevor der Weltruhm über ihn hinwegfegte und er noch als Vertreter dieses Bezirks im Senat von Illinois saß. Deshalb gibt es hier auch eine Karte mit „Obama’s Favorites“: Eiweißomelette mit Gemüse pflegte der 44. Präsident der vereinigten Staaten hier gern zu frühstücken, das ist zu erfahren. Gut gesättigt ist man gewappnet für den Kulturschock, der einen an der nächsten Straßenecke erwartet: Ein riesiges blumengeschmücktes Monument mit stählerner Gedenktafel, auf der das Präsidentenpaar in eindeutiger Pose zu sehen ist, weist darauf hin, das genau hier die Stelle war, an der Obama seine Michelle zum ersten Mal geküsst hat. Der Kuss habe nach Schokoladeneis geschmeckt. Willkommen in Obamatown.
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