Mailand ist die Modemetropole Italiens, Europas, der nördlichen Hemisphäre, des Planeten. Steigt man in Varese in den Nahverkehrszug, fällt auf, dass in jedem Kaff nur auf das äußerste aufgebrezelte Menschen zusteigen. Man soll ja um Gottes Willen nicht auf die Idee kommen, irgendjemand käme aus der Provinz. Nirgendwo sonst, selbst in Paris nicht, sieht man so viele schöne Frauen in extravaganten Outfits, so viele gutaussehende Männer in Maßanzügen, die perfekt jeden Vorzug betonen und jedes Manko kaschieren. Nebenbei bemerkt: Dieser Ausdruck hat seinen Ursprung in der Landessprache, denn „manco“ heißt ungefähr„ich fehle“.
Nicht nur auf den Catwalks flanieren in Milano die Models, in diesem Freigehege der Alta Moda laufen sie auch ganz offen auf der Straße herum. In den an schönen Motiven so reichen Gässchen und den grandiosen Boulevards stolpert man oft über Fotoshootings, und lange, dünne Mädchen mit ausdrucklosen Kindergesichtern wimmeln überall herum.
Gern würde man dem „lang und dünn“ auch ein „schön“ hinzufügen, aber das scheint nicht mehr obligatorisch zu sein. In einer zehnseitigen Fotostrecke der Modezeitschrift „Gioia“ (sprich: dschoja) posiert in schweineteuren, ausschließlich feuerroten Designerklamotten ein Mädchen, das nur durch einen abstrusen Zufall in die Modeszene gestolpert sein kann. Wahrscheinlich hat das Team eine Stunde vergeblich auf das gebuchte Model gewartet und dann den kühnen Entschluss gefasst: Scheiß drauf, nehmen wir einfach die Putzfrau! Anders kann ich mir nämlich beim besten Willen die großen, roten, aus der dünnen Frisur ragenden Ohren, den Silberblick und die völlige Unfähigkeit, attraktiv zu posieren, nicht erklären.
In einem der zahlreichen Mailänder Edelfriseursalons wirbt man hingegen noch mit einem „Iconic shot“ der Achtziger von Peter Lindbergh. Naomi Campbell, Tatjana Patitz, Elle McPherson, Cindy Crawford und andere Supermodels, splitternackt und auf das dekorativste miteinander verknotet, jede Frau für sich einzigartig schön. Was ist inzwischen passiert? Feiert man den neuen Reiz der Reizlosigkeit? Vielleicht möchte man, dem Zeitgeist entsprechend, niemanden mehr von gar nichts ausgrenzen, Personen mit Tourette-Syndrom nicht vom Beruf des Traumatherapeuten, Legastheniker nicht von der Tätigkeit als Gymnasiallehrer und segelohrige Trümmergurken nicht von einem Job als Topmodel?
Ihr, die Ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren
Da weidet man sich doch lieber am Anblick der japanischen, französischen und schwedischen Zuckerschnuten der Touristinnen, die Mailand mit Teetassengroßen Augen durchwimmeln; Augen, die stündlich größer werden. Aus gutem Grund, denn Boutiquen, Schuhgeschäfte und Parfümerien liegen hier dicht an dicht, das Angebot ist riesig und durchaus für jeden Geldbeutel zu haben.
Für die Glücklichen, bei denen Geld keine Rolle spielt, gibt es links des Mailänder Doms das Luxuskaufhaus „La Rinascente“. Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate – das Motto von Dantes Höllentor scheint hier passend genug: Ihr, die Ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren. Zum Sterben schöne, in der Regel beinahe unbezahlbare Prêt-a-porter-Mode. Die Damenwelt lässt gierige Finger schnurrend über Seide, Kaschmir und Wildleder gleiten, wie Fetischistinnen befummeln sie die Modelle der ganz großen Designer, von dem riesigen, bestens geschulten Verkäuferstab händeringend verfolgt.
Ermenegildo Zegna. Emilio Pucci. Roberto Cavalli. Max Mara. Prada, Gucci, Missoni – es bleibt kein Wunsch offen. Jede Frau, davon bin ich fest überzeugt, sollte wenigstens einmal im Leben ein Designerstück besitzen. Denn nur ein solches hat diesen zeitlosen Wow-Effekt. Eine Seidenbluse von Pucci, ein Kleidchen von Zegna, eine Jacke von Missoni kosten zwar viel, viel Geld, aber dafür ist man damit auch in den nächsten zehn bis dreißig Jahren oder für den Rest seines Lebens bei fast jeder Gelegenheit hervorragend angezogen.
Das ist der Wow-Effekt. Ich spreche da aus Erfahrung. Mein erstes Designerstück fand ich Mitte der Neunziger auf dem Sperrmüll. Ungelogen. Eine Yves-Saint-Laurent-Strickjacke. Nachdem ich mir die Freudentränen getrocknet hatte, nahm ich sie zärtlich mit nachhause. Ich wusch sie vorsichtig und kalt, nähte nach dem Trocknen das Etikett liebevoll wieder fest und stopfte sorgfältigst alle Mottenlöcher. Als ich sie zum ersten Mal anzog, gab es prompt gehobene Augenbrauen und kreisrund geöffnete Münder. Yves-Saint-Laurent ist immer noch Yves-Saint-Laurent, selbst in stark restauriertem Zustand. Wow.