Michael Miersch / 27.05.2013 / 21:45 / 0 / Seite ausdrucken

Auch in Schlesien gab es „Sweatshops“

Nachdem ich Ulli Kulkes Blog zu den schrecklichen Katastrophen in Textilfabriken in Bangladesch und den Konsequenzen daraus gelesen hatte, fiel mir ein Text aus dem Jahr 2010 ein. Ich hatte ihn anlässlich eines Streiks von Textilarbeiterinnen in Bangladesch für DIE WELT geschrieben. Er passt ziemlich gut zur aktuellen Boykott-Debatte.

Wer heute über 40 ist, kann es kaum fassen, wie billig man modische Kleidung erwerben kann. Die Zeiten als Socken gestopft wurden, selbst stricken sich lohnte und jüngere Geschwister die Kleider der älteren auftrugen, sind vorüber - vorausgesetzt man lebt in einem der reichen Industrieländer.

In den armen Entwicklungsländern arbeiten dafür Millionen Frauen für Hungerlöhne um den Modehunger der hiesigen Konsumentinnen zu stillen. Die Empörung darüber ist völlig berechtigt.

Streiks wie der, den die Textilarbeiterinnen in Bangladesch gerade ausgefochten haben, verdienen Solidarität. Wer Billigkleidung kauft, sollte sich überlegen, einen Teil des gesparten Geldes für Gewerkschaften in Billiglohnländern zu spenden. Es ist auch angebracht mit Plakaten vor die trendigen Textilketten zu ziehen und die Käuferinnen darauf aufmerksam zu machen, woher ihre Schnäppchen stammen.

Doch die pauschale Kritik an den Sweatshops greift etwas zu kurz, denn sie tut so, als sei der Status eines Billiglohnlandes etwas statisches. Etwas was so war, so ist und so bleibt. Das ist seltsam geschichtsvergessen. Schon ein flüchtiger Blick auf die Wirtschaftgeschichte zeigt, jedes heute wohlhabende Land war einmal ein Billiglohnland. In Südkorea und Taiwan, Singapur und Hongkong schufteten die Menschen noch vor wenigen Jahren in Sweatshops. Südkoreas pro Kopf Jahreseinkommen lag 1960 bei 500 Dollar, heute bei 20 000 Dollar. Taiwanesische Unternehmen betreiben heute Niedriglohnfabriken in Nicaragua und auf den Philippinen. Und verhalten sich dabei genauso ausbeuterisch wie Europäer und Nordamerikaner, obwohl sie doch ihre eigene Sweatshop-Zeit noch gut in Erinnerung haben. Die Generation, die Japan noch als Billiglohnland erlebte, ist noch gar nicht so alt. In Deutschland muss man länger zurückblicken, aber auch hier waren Sweatshops einmal das Fundament der Wirtschaft. Gerhard Hauptmanns Drama „Die Weber“ schildert den berühmten Aufstand in Schlesien, der in vielem dem Streik der heutigen Textilarbeiterinnen in Bangladesch ähnelt.

Jedes wohlhabende Land hatte seine Phase, in der Massenware mit einfachen angelernten Arbeitskräften produziert wurde. Niemand kann von der Agrargesellschaft in die Wissensgesellschaft springen. Es braucht ein paar Zwischenstationen. Die erste heißt Industrialisierung. Sie hat ein hässliches Gesicht. Aber für viele Menschen eröffnet sie eine Möglichkeit der Dorfarmut zu entfliehen. Die Mütter der ausgebeuteten Arbeiterinnen Bangladeschs wateten ihr Leben lang hinter einem Wasserbüffel durch Reisfelder, ebenso die Großmütter und Urgroßmütter. Arbeiten an den Nähmaschinen ist stupide, erschöpfend und unterbezahlt, aber auch eine Chance. Zwei Journalisten der „Süddeutschen Zeitung“ waren vor ein paar Jahren in den Fabriken auf den Philippinen, die die Kanadierin Naomi Klein für ihr Buch „No Logo“ besichtigt hat, eine Anklageschrift gegen Sweatshops, die zum Weltbestseller wurde. Was die Reporter von den jungen Frauen dort zu hören bekamen, entsprach so gar nicht dem Naomi-Klein-Klischee. Sie gaben zu Protokoll, dass sie nicht mehr bei ihren Eltern auf dem Feld arbeiten wollten, dass sie jetzt besser leben und sogar, dass sie die Arbeit ganz okay fänden.

„Okay“ ist die Näherei mit Sicherheit nicht. Aber sie ist – und das ist nicht unwichtig – ein relativer Fortschritt gegenüber den Entbehrungen armer Kleinbauernfamilien. Seit Anfang der 90er Jahre sind auf der Welt 800 Millionen Arbeitsplätze entstanden, viele davon in Sweatshops. In Europa dauerte es 40 Jahre, bis sich das Deutschnitteinkommen verdoppelte. Die Länder Südostasiens brauchten 10 bis 15 Jahre dafür. Hunderttausenden gelingt es dort Jahr für Jahr sich aus der Armut zu befreien.

Naomi Wolf empfiehlt als Ausweg aus der Armut, Fair-Trade-Produkte zu kaufen, die es ja auch in Deutschland inzwischen fast überall gibt. Das ist gut gemeint, ob es der wirtschaftlichen Entwicklung in armen Ländern nachhaltig hilft, ist fraglich. Fair-Trade bedeutet feste Abnahmegarantien zu höheren Preisen für Hersteller, die Sozial- und Umweltstandards einhalten. Das klingt gut, hat aber den Nachteil, dass die Informationen, die der Markt gibt, abgeschaltet werden. Wer einen guten Fair-Trade-Vertrag in der Tasche hat, muss nicht mehr drauf achten, was die Kunden wünschen. Wie einst die Fabriken in der DDR, die auch alles loswurden, was sie herstellten. So lange, bis die Menschen die Wahl hatten. Fair-Trade ist ein ökonomischer Schonraum, indem sich Unternehmen nicht weiter entwickeln müssen. Dennoch ist es ehrenwert, solche Produkte zu kaufen.

Ein besseres Leben für die große Mehrheit der Textilarbeiterinnen in Bangladesch und anderswo wird sich nicht aus Nischen wie Fair-Trade entwickeln. Sondern aus dem Wirtschaftswachstum Südostasiens, das weit über dem europäischen liegt. Jeder Cent mehr den die Frauen Bangladeschs erstreiken, wird die Startbedingungen ihrer Töchter verbessern. Die Zukunft gehört diesen Töchtern. Sie wird schneller kommen, als viele glauben. 

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