Die beiden Zahlen sollte man schon einmal nebeneinander halten. Knapp 16 Prozent der Deutschen werden nach offizieller Definition als arm oder armutsgefährdet eingestuft, jeder sechste also. Das hat das statistische Bundesamt im Oktober bekannt gegeben. Da ist es erstaunlich, was jetzt eine Umfrage für das neueste ZDF-„Politbarometer“ ans Licht brachte: Nur etwa acht Prozent der Bevölkerung bezeichnet die eigene persönliche ökonomische Situation als schlecht. Das ist nicht einmal die Hälfte der oben genannten Zahl. Ganz offenbar wissen viele von denen, die als arm gelten, gar nicht um ihr Elend, man hat es ihnen noch immer nicht laut genug gesagt.
Gewiss, Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen. Das gilt es zu bedenken. Mindestens ebenso bedenklich aber ist die Festsetzung der Armutsgrenze, denn die ist anders als Umfrageergebnisse sogar willkürlich: Wer 60 Prozent des Durchschnittseinkommens oder weniger zur Verfügung hat, gilt als arm (bis 50 Prozent) oder armutsgefährdet (zwischen 50 und 60 Prozent). Die meisten, die diese Zahl im öffentlichen Diskurs verwenden, reklamieren mit ihr einen gehörigen Handlungsbedarf. 60 Prozent, da sind wir allerdings nicht mehr allzu weit von der Forderung entfernt, niemand solle überhaupt unterhalb des Durchschnittseinkommens verdienen, das sei menschenunwürdig. Gleitender Mindestlohn auf Höhe des Durchschnittseinkommens, warum nicht? Mathematisch unmöglich? Das bisschen Arithmetik können wir mit der nötigen Rhetorik auch noch überwinden.
Kann es sein, dass das Argumentieren mit den 60 Prozent nicht in erster Linie den Armen helfen soll, sondern den vielen in der „Hilfsindustrie“ tätigen, wie sie der kluge Autor Walter Wüllenweber (“Die Asozialen”) nannte, und zu der wohl auch jene Angestellten gehören, die in den Wohlfahrtsverbänden oder Ministerien und Verwaltungen sich Tag für Tag neue Bausteine des Wohlfahrtstaates ausdenken müssen, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Und um die 500 Milliarden Euro an Wohlfahrtsleistungen voll zu kriegen, die die Regierung Merkel gerade im Begriff ist, für die kommenden Jahre und Jahrzehnte aufs Gleis zu setzen, und mit denen sie die so wertvollen Ansätze der Regierung Schröder neutralisiert.
Armut bzw. armutsgefährdet bei 60 Prozent des Durchschnittseinkommens bei Löhnen und Gehältern wie in Deutschland. Das muss man Menschen in anderen Ländern erst einmal vermitteln. Selbst die platte Volksweisheit “alles ist relativ” kann das nicht mehr rechtfertigen.
Zuerst erschienen auf Ulli Kulkes Blog bei der WELT