Seit geraumer Zeit schwelt ein diplomatischer Konflikt zwischen Marokko und Deutschland vor sich hin. Nun hat das nordwestafrikanische Königreich am 6. Mai seine Botschafterin aus Berlin zu Konsultationen abberufen. Das ist der vorläufige Höhepunkt der Verstimmungen, die seit März 2021 andauern. Damals hatte der marokkanische Außenminister angeordnet, sämtliche Kontakte zur deutschen Botschaft und anderen deutschen Institutionen einzustellen.
Was ist der offenbar schon länger vorhandene Hintergrund: Das 446.000 Quadratkilometer große Königreich Marokko mit seinen rund 36 Millionen Einwohnern beansprucht die West-Sahara (266.000 Quadratkilometer groß mit rund 600.000 Einwohnern, reich an Phosphaten) seit dem Abzug der spanischen Kolonialmacht im Jahr 1975 für sich. Einen erheblichen Teil der Westsahara hat Marokko denn auch besetzt. Die Organisation Frente Polisario kämpft freilich seit dem Abzug Spaniens mit militärischer Unterstützung Algeriens für einen unabhängigen Staat. Phasenweise kam es auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen an den Grenzen
Zugleich – und das scheint der aktuelle oder auch vorgeschützte Auslöser diplomatischer Verstimmungen zu sein – kritisiert beziehungsweise unterstellt Marokko, dass ein Deutschmarokkaner aus Duisburg von deutschen Behörden sensible Informationen marokkanischer Sicherheitsdienste erhalten habe. Es handelt sich vermutlich um Mohamed Hajib, den Rabat als „ehemaligen, wegen terroristischer Handlungen Verurteilten“ betrachtet und der in sozialen Medien den König und die politische Lage in Marokko kritisiert.
Der Deutschmarokkaner war wegen der Beteiligung an der Bildung einer terroristischen Organisation in Afghanistan verurteilt worden und sieben Jahre lang in Marokko in Haft. Marokko hatte in Deutschland dann Anzeige gegen ihn erstattet und sich vergeblich bei Interpol um einen internationalen Haftbefehl bemüht. Deutsche Justizbehörden sahen keine Anhaltspunkte für Aufrufe zur Gewalt oder zu Straftaten. Zudem kritisierte Marokko, nicht zur Berliner Libyen-Konferenz vom Januar 2020 eingeladen worden zu sein, und warf Deutschland vor, es wolle den Einfluss des Landes zurückdrängen.
Ein Ausweg scheint nicht in Sicht
Die Personalie und die Nichteinladung dürften aber nur der äußere Anlass für das frostige Klima sein. Tatsächlich liegt das Problem tiefer, sonst hätte Marokko verbal nicht so fortissimo in die Klaviatur gegriffen. Mit einer für den diplomatischen Sprachgebrauch ungewöhnlich scharfen Diktion kritisiert Marokko Deutschlands Haltung zum Konflikt um die Westsahara. Es ist gar von feindlichen Handlungen Deutschlands gegen die höheren Interessen des Königreichs Marokko die Rede.
Tieferer Hintergrund: Deutschland besteht nach wie vor darauf, dass der zukünftige Status der Westsahara durch Verhandlungen unter der Ägide der UN geklärt wird. Berlin hatte sich damit gegen den damaligen US-Präsident Trump gestellt. Dieser hatte im Dezember 2020 den Anspruch Marokkos auf Westsahara anerkannt. Es war quasi die Gegenleistung Trumps für die Entscheidung König Mohammeds VI., die Beziehungen Marokkos zu Israel zu normalisieren. Marokkanische Diplomaten hatten offenbar erwartet, die Bundesregierung werde ähnlich reagieren wie die USA.
Ein Ausweg scheint freilich nicht in Sicht. Dabei wäre ein Rückhalt des Westens für das Königreich Marokko sehr wohl im eigenen Interesse. Marokko ist schließlich das politisch stabilste Land im Norden Afrikas und durchaus ein Bollwerk gegen aggressive Islamisierungsbewegungen. Aber nicht einmal die EU scheint sich einig zu sein, wie man sich verhalten soll.
Ex-Bundespräsident Horst Köhler genießt hohes Ansehen
Frankreich gilt als Verbündeter Marokkos, Rabat unterstützt den französischen Einsatz in Mali und gewährte der Luftwaffe Überflugrechte. Auch wirtschaftlich sind beide Länder eng verknüpft. Die Beziehungen Frankreichs zu Algerien sind dagegen seit dem blutigen Befreiungskampf der Algerier in den 60ern belastet. Spanien wiederum steht Algerien näher und unterstützt als ehemalige Kolonialmacht der Westsahara den Unabhängigkeitskurs der Sahrawis, der Mauren der Westsahara.
Der Bundesregierung kann man jetzt nur ein glückliches Händchen wünschen. Vielleicht tut man in Berlin gut daran, sich an die Vermittlertätigkeit des vormaligen Bundespräsidenten Horst Köhler und dessen Ansehen unter den Konfliktparteien zu erinnern. Von 2017 bis 2019, als er diese Aufgabe aus gesundheitlichen Gründen zurückgab, war Köhler UN-Sonderbeauftragter für den Westsahara-Konflikt. Köhler, zumal aus seiner Zeit als Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) ein versierter Afrika-Kenner, hatte die Aufgabe als UN-Sonderbeauftragter mit Zustimmung der Konfliktparteien übernommen. Zuletzt leitete er im März 2019 Friedensgespräche.
Den Kredit, den Köhler damals auch für Deutschland erwarb, gilt es zu nutzen und zu mehren. Dem Auswärtigen Amt ist dabei viel Geschick zu wünschen. Die erste Reaktion des Auswärtigen Amtes, namentlich seiner Sprecherin Maria Adebahr, war eher das Gegenteil davon, als sie sagte: Das Vorgehen sei "eher ungewöhnlich und auch kein sehr geeignetes Verfahren, um eine diplomatische Krise beizulegen". Die Vorwürfe und die Wortwahl in der Erklärung Rabats "entbehren jeder Grundlage" und seien nicht nachvollziehbar.