Alain Pichard, Gastautor / 23.06.2016 / 06:00 / Foto: Lujoma / 0 / Seite ausdrucken

Zum 10-jährigen meines Austritts aus der linken Bewegung

Von Alain Pichard.

In diesem Sommer jährt sich zum 10. Mal ein Ereignis, das in meinem persönlichen Leben tiefe Spuren hinterliess. Es war gleichbedeutend mit einer Zäsur.  In diesem Sommer 2006 debattierte die Schweiz heftig um die Revision des Asyl- und Ausländergesetzes. Dieses Gesetz war zwar in den Grundzügen schon vorher in wesentlichen Teilen aufgegleist worden. Verschärft und vertreten wurde es aber durch den damaligen Bundesrat Christoph Blocher. Dieser Umstand war sicher auch ein Grund dafür, wie heftig dieser Abstimmungskampf geführt wurde. Fast alle Medien, viele Kulturschaffende und unser eigenes linksgrünes Umfeld kämpften erbittert gegen diese Vorlage, wetterten gegen einen «Lügenbundesrat», der Probleme aufbauschte und Fremdenfeindlichkeit schürte

Ich war damals ein aktives Mitglied der Grünen Partei und überzeugtes Mitglied der Gewerkschaft VPOD. Ich war aber auch Lehrer an einem Oberstufenzentrum der Stadt Biel und als solcher konfrontiert mit den vielen realen Problemen, welche uns Teile der zweiten und zum Teil dritten Generation der Migranten in der Schule bescherten. Es war eine schwierige Zeit. Unsere auf Toleranz und Verständnis eingestellten Schulen waren teilweise überfordert mit dem flegelhaften Verhalten von Teilen dieser Schülergeneration. Massive Unterrichtsstörungen, unzählige nervenaufreibende Gespräche mit den Eltern dieser Jugendlichen, der Auftritt immer zahlreicherer Institutionen, welche einbezogen werden mussten oder wollten, führten unter anderem zu einer enormen Fluktuation im Lehrkörper.

Die Schweizer zogen weg oder suchten sich eine Privatschule

Die tiefer eingestuften Realklassen füllten sich mit fremdsprachigen Schülerinnen und Schülern, die Schweizer Eltern nahmen ihre Kinder aus diesen Klassen, zogen in andere Wohngegenden oder suchten sich eine Privatschule. Darunter auch mir bestens bekannte linke Persönlichkeiten, welche in Sonntagspredigten das Hohelied der Toleranz und des Willkommens sangen, ihre eigenen Kinder aber nicht als Klempner einer schief gelaufenen schulischen Integration sahen und sie nicht in den Brennofen multikultureller Schwärmereien schicken mochten.

Ich sass mit Kurt, Bruno und Peter, alles solide linke Lehrerkollegen in der symbolträchtigen Rotonde, das Restaurant des ehemaligen Volkshauses. Wir standen vor einem schwerwiegenden Entscheid. In zahlreichen Vorgesprächen war es uns längstens klar. Wir würden alle für diese Gesetzesrevision stimmen. Unsere Erfahrungen aber auch unsere nüchternen Analysen liessen uns eigentlich keine Wahl. Die hysterische Kampagne unserer linksgrünen Freunde hatte nichts mit dem vorliegenden Problem zu tun. Am meisten aber bekümmerte uns die Erosion der Bildungsqualität und damit verbunden die Tatsache, dass sich mit dieser Entwicklung ein nachhaltiger Schulerfolg für unsere Migrantenkinder unmöglich einstellen konnte. Kein Lehrer hat es gerne, wenn seine Schüler nichts lernen.

Wir hatten deshalb beschlossen, unseren Dissenz öffentlich zu machen und verfassten dazu  eine Art Erklärung. Diese schickten wir dem VPOD-Lehrermagazin, unserem Verbandsblatt. Ich selber hatte einen wesentlichen Teil meiner linken gewerkschaftlichen Tätigkeit mit der Herausgabe dieser Zeitung verbracht und war lange Zeit Mitglied der Redaktion. Wir erhielten keine Antwort. Darauf schickten wir den Artikel der WOZ, quasi als Diskussionsbeitrag. Auch hierauf gab es keine Antwort. Die Zeit drängte und ich war beleidigt.

Ich war auf einiges gefasst - aber darauf dann doch nicht

Ich nahm Kontakt mit Alex Baur auf, dem bekannten Journalisten der Weltwoche. Dieser erklärte sich bereit, unseren Artikel zu veröffentlichen. Nun war ja die Weltwoche schon damals das vermutlich noch schlimmere Feindbild der Linken und ihr Herausgeber Köppel ein Scharfmacher von Blochers Gnaden. Das war auch meinen  Kollegen zuviel. Sie konnten sich nicht dazu durchringen, diesen Artikel in ihrem Namen in diesem Blatt zu veröffentlichen. Ich tat es daraufhin in eigener Verantwortung und schrieb, durchaus etwas schelmisch „im Namen von vier linken Lehrkräften“.

Ich war auf einiges gefasst. Aber die Reaktionen meiner linken Mitstreiter überraschten sogar ein altes Schlachtross wie mich. „Schweinehund“. „Blochergeselle“, „Verräter“,  über mich ergoss sich die ganze Palette linker moralischer Empörungsbegriffe, die in dieser ohnehin schon aufgeheizten Atmosphäre zur Verfügung standen. Viele Parteimitglieder forderten meinen Ausschluss, ein leitendes Mitglied meiner Sektion, meinte gegenüber der lokalen Presse, man werde geeignete Massnahmen ergreifen.

Der damalige Nationalrat und Präsident der Grünen, Ueli Leuenberger, reiste nach Biel, um seine Sicht der Dinge, sprich, seine Integrationsvorstellungen vorzustellen. Er pries die Integrationsbemühungen seiner Stadt Genf und verurteilte meine Stellungnahme als Fremdenfeindlichkeit übelster Sorte. Auch mein ehemaliger Freund und Mitarbeiter der Gewerkschaftszeitung, Ruedi Tobler, schrieb mir: „Dein Artikel ist einfach nur schlecht!“ Die Folge: Ich konnte über vier Jahre nichts mehr in „meiner“ Verbandszeitung, die ich ja massgeblich mitprägte, schreiben.

Boykott und Schreibverbot

Eine Veranstaltung zur neuen Schulordnung, die ich im Namen der Grünen Partei noch vor der Veröffentlichung organisierte, wurde von meinen Parteimitgliedern boykottiert. Es kam genau eine Person. Die Menschen wechselten die Strasse, wenn sie mich sahen.Neben der Untat, in der Weltwoche zu publizieren, begingen wir noch einen zweiten Tabubruch. Wir erklärten nämlich, dass sich nicht alle Migrantengruppen mit unserem Bildungssystem schwer täten. Wir hatten nämlich kaum Probleme mit Italienern, Spaniern, Russen, Vietnamesen und so weiter.

Wir nannten die schwierigen Bevölkerungsgruppen beim Namen. Muslimische Schüler. Brasilianer, zum Teil auch Afrikaner. „Ja zum Ausländergesetz“, „Weltwoche“, „Nennung von Migrantengruppen“ zugegeben, das war im Rückblick gesehen doch etwas viel für meine ehemaligen Mitstreiter

Trotzdem gab es auch die anderen Reaktionen. Neben vielen Lehrkräften und einigen Freunden hielt mir besonders und überraschenderweise eine Gruppe die Stange, unaufgeregt und unaufgefordert. Es waren die Migrantenvereine, die Kurden, die Albaner, die vielen Ex- Schülerinnen und –schüler, die mich als Lehrer kannten und eines wussten: Dieser Mann ist unser Anwalt. Er forderte und förderte. Er interessierte sich für uns. Ich wurde eingeladen, auf offener Strasse beglückwünscht und bald darauf die Adresse für ein weiteres Problem innerhalb unserer muslimischen Gemeinde.

Die heutige Migrationsdebatte leidet immer noch unter Denkverboten

Mit Nicolas Blancho und seinem Islamischen Zentralrat ebtwickelte sich auch eine radikalere Stimmung, welche vor allem junge Jugendliche in ihren Bann zog. Junge Erwachsene verschwanden plötzlich in sogenannten Islamschulen, verzweifelte Eltern meldeten sich nicht bei den wegschauenden Integrationsbehörden, sondern bei mir. Die Revision wurde bekanntlich mit über 70 Prozent der Stimmen angenommen. Eine vernichtende Niederlage des links-grünen Milieus, das nicht einmal das eigene Lager hinter sich bringen konnte. 

Die heutige Migrationsdebatte leidet zwar immer noch an Denkverboten und kann phasenweise wieder in Hysterie umschlagen. Rückblickend lässt sich aber feststellen, dass sich ein pragmatischer Stil im Umgang mit den Kindern unserer Einwanderer durchgesetzt hat. Die Rhetorik unseres Weltwoche-Artikels gehört heute längstens zum üblichen Vokabular vieler linker Politiker, Sozialarbeiter und Schulleiter.

Die Schulen reagieren heute viel klarer auf muslimische Sonderwünsche und lassen sich kaum mehr auf der Nase herumtanzen. Eine allgemein härtere Gangart gegenüber Disziplinlosigkeiten wurde eingeschlagen zum Vorteil unserer Schüler und vor allem auch unserer Migrantenkinder. Chaos im Unterricht will niemandem.

Das VPOD-Magazin „Bildungspolitik“ lässt mich wieder schreiben

Der neue Chefredaktor des VPOD-Magazins „Bildungspolitik“, Johannes Gruber, lässt mich wieder schreiben, in der Weltwoche publizieren heute auch andere Linke wie zum Beispiel der Jungspund Cédric Wermuth oder Peter Bodenmann. Mit der erfolgreichen Basler Zeitung unter Markus Somm ist ein neuer liberaler Verbündeter aufgetaucht, der das in unserer Demokratie wichtige Check-and-Balance-System verstärkt. Grundsätzlich orientieren sich die Medien heute mehr an dem, was ist und nicht mehr so stark an dem, was sein soll. Ich trat aus der Grünen Partei aus und politisiere heute bei den Grünliberalen.

Vor einiger Zeit war ich an eine Wohnungseinweihung eines ehemaligen Schülers eingeladen. Der Bosnier mit Schweizer Pass, der 1994 als Flüchtling in die Schweiz kam, kaufte sich mit seinem Vater gerade ein ganzes Haus. Die ganze Familie rackerte und sparte dafür. Geradezu begeistert war er aber, als er schon wenige Tage, nachdem er mit dem Verkäufer einig wurde, einen Termin beim Notar erhielt, der bereits das Grundbuch anvisiert hatte und er merkte, dass er jetzt ein wirklicher Besitzer wurde. In seinem Heimatland hätte dies ein Jahr gedauert und wäre ohne Schwarzgeld kaum möglich gewesen.

Im Schweizer Arbeitsmarkt sind unsere ausländischen Mitbürger viel besser integriert als im übrigen Europa. Und dies, obwohl die Schweiz ab 2000 im Verhältnis wesentlich mehr Immigranten aufgenommen hat, als Beispielsweise die USA. Sie sind alle kranken- und altersversichert und pensionsberechtigt. Die Kinder des Bosniers machen eine Lehre, und eine seiner Töchter ist Mitglied in dem von mir gegründeten Lehrlings- und Migrantentheater Biel.

„Wer sich anstrengt“, vertraute mir der gelernte Polymechaniker, „kann in diesem Land etwas erreichen“. Und er ärgert sich wie ich über die Migrantenflüsterer, welche die Schweiz als ein integrationsfeindliches Land darstellen und den neuen Migranten eine Umwertung aller Werte vorpredigen: Keine Leistung, viele aufpäppelnde Sonderbetreuungen, Rassismusberatungsstellen und Integrationsbehörden, welche ihren ausländischen Klienten vor allem eines suggerieren: „Wir sind doch alle Opfer“.

Integration findet durch Arbeitschancen statt. Das ist, was zählt. Und wir müssen dafür sorgen, dass dies auch so bleibt, gerade in Biel, wo diese Erfolgsstory ins Stottern zu geraten droht. Und wir brauchen eine offene Debatte über die Probleme, welche die Migration mit sich bringt. Dazu braucht es die Weltwoche genauso wie die WOZ.

Alain Pichard ist Grünliberaler Stadtrat in Biel und seit 40 Jahren Lehrer in sozialen Brennpunktschulen.

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