Andrea Ypsilanti hat hessisch Roulette gespielt und verloren. Ihr grimmiger Versuch, über den offenen Bruch eines Wahlversprechens an die Macht zu kommen, ist spektakulär gescheitert. Die vier Notbremser der SPD-Landtagsfraktion werden von Andrea Ypsilanti noch als Verräter beschimpft, doch der eigentliche Verrat lag bei ihr selbst. Nun gibt es also Neuwahlen und einen Alt-Ministerpräsidenten, der wohl weiterkochen darf. Es gibt aber auch eine Lektion für die politische Ethik im Land: Kant ist stärker als Nietzsche…
Vordergründig waren es die „fantastischen Vier“, die Frau Ypsilanti nicht folgen wollten in die Relativitätstheorie von Wahrheit und Lüge. Wie Antigone im klassische Drama beriefen sie sich auf ein höheres Recht als die schiere Macht: das Gewissen. Das ist ein ebenso schöne wie seltene Größe im politischen Leben, dessen graue Regeln aus Opportunitäten und Kompromissen, aus Interessen und Sachlagen, aus Mehrheiten und Wägbarkeiten bestehen. Das Gewissen hingegen ist frei und doch final. Wenn es auftaucht in der Politik, dann wird es erstens ernst und zweitens frischwindig. Der Mief der Macht kommt unter die klare Zugluft einer höheren Autorität.
Während Ypsilanti noch über die semantische Doppellogik von Versprechen räsonierte, entschieden sich nicht nur zwei Drittel der beumfragten Wähler, sondern auch vier Abgeordnete für Immanuel Kant: Was Du einmal versprochen hast, das darfst Du nicht brechen.
Der große Aufklärungsphilosoph ist maßgeblich schuld daran, dass wir Deutsche ein ziemlich rigoroses Verhältnis zur Lüge haben. Das hätte Andrea Ypsilanti wissen können, als sie plötzlich mit der Linkspartei anbandelte. Sie aber folgte Friedrich Nietzsche. Der Übermensch-Philosoph befand, dass der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge nur einer Vereinbarung tatkräftiger Menschen folge. Der Erfolg entscheide demnach über die moralische Bedeutung von gebrochenen Versprechen.
Nun hat Andrea Ypslinati sowohl nach Kant als auch nach Nietzsche verloren. Die Bildzeitung bekommt mit „Frau Lügilanti“ eine dankbare Bösewicht-Besetzung im Theater des Politischen. Und Roland Koch schon wieder ein neues politisches Leben. Denn er folgt weder Kant noch Nietzsche, sondern Popper. Sein politisches Leben ist eine Endlosschleife aus Falsifikationen, aus Versuchen und Irrtümern. Die schiere Tatsache aber, dass das Leben ihm alle Irrtümer verzeiht, macht ihn inzwischen fast magisch unverwundbar.
Nun mag man zu Roland Koch stehen wie man will: Für die öffentliche Moral in Deutschland ist der Vorgang ein Gewinn.
Denn das Bild der großen Politik ist durch fundamentale Spielregeln des menschlichen Anstands wieder gerade gerückt worden. Damit wird offenbar, dass die Politik eben kein entrücktes Spiel von Machbarkeiten ist, sondern so funktioniert wie das wahre Leben.
Insofern dürfte das hessische Machtroulette ein „defining moment“ des deutschen Parlamentarismus werden. Fortan wird keine Person und keine Partei es mehr so schnell wagen, mit Nietzsche an die Macht zu kommen. Schon der Bundestagswahlkampf im kommenden Jahr dürfte in seinen Vorab-Festlegungen zu Koalitionen so ehrlich werden wie kaum einer zuvor. Kantianisch eben.