Gastautor / 24.09.2009 / 18:52 / 0 / Seite ausdrucken

Vulgärpazifismus

Von Thea Dorn

Die Frage, „obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden, oder sich waffnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden?“, trieb Hamlet an den Rand des Wahnsinns und darüber hinaus.
Weit entfernt von solch seelischer Zerrissenheit bewegen sich die 25 prominenten Künstler und Medienschaffenden, die vergangene Woche im „Freitag“ die Bundesregierung aufgefordert haben, Deutschlands militärische Präsenz in Afghanistan innerhalb von zwei Jahren zu beenden. Hamlet war weise genug zu sehen, dass es bei der Frage „wütendes Geschick dulden“ oder „durch Widerstand enden“ ums Ganze geht – ums sprichwörtlich gewordene „Sein oder Nichtsein“. Schaut man sich in der Geschichte des ernst gemeinten Pazifismus um, stellt man fest, dass all seine Gallionsfiguren bereit waren, das „Nichtsein“ als Konsequenz ihres Pazifismus in Kauf zu nehmen: Sokrates weigerte sich, aus dem Gefängnis zu fliehen, und trank den tödlichen Becher, zu dem ihn die Athener verurteilt hatten: Tiefster und letzter Ausdruck seiner Überzeugung, dass es allemal richtiger ist, Unrecht zu erleiden, als selbst Unrecht zu tun. Jesus starb gemäß seines Credos, dass die einzig richtige Reaktion auf einen Schlag ins Gesicht darin besteht, dem Schlagenden die andere Gesichtshälfte hinzuhalten.
Die Unterzeichner des aktuellen Pazifismus-Aufrufs von Elfriede Jelinek bis Charlotte Roche, von Jürgen Flimm bis Katharina Thalbach hingegen scheinen zu glauben, man könne sein Gewissen lämmchenweiß halten und dennoch in den Genuss des „Seins“ kommen. Sie erklären, dass Deutschland der Verantwortung, die es in Afghanistan übernommen hat, nicht ausweichen soll. Mit der Gummiformel „langfristiges entwicklungspolitisches Engagement“ hoffen Schriftsteller und andere Wortarbeiter, die sonst keine Gelegenheit auslassen, die Bundesregierung für deren Gummiformel vom „Stabilisierungseinsatz“ zu kritisieren, den gordischen Gewissenknoten zu durchschlagen. Ob die versammelten Unterzeichner jemals mit Menschen geredet haben, die sich in Afghanistan tatsächlich „entwicklungspolitisch engagieren“? Die Antwort, die ich von allen gehört habe, die dort für Bildung und Zivilgesellschaft kämpfen, lautet: Ohne massiven militärischen Schutz – der zum Beispiel auch beinhaltet, dass man es nicht einfach geschehen lässt, wenn Taliban zwei Tanklastzüge entführen – brauchen wir hier keinen Tag länger zu arbeiten.
Da ist Richard David Precht in seiner Ablehnung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan schon konsequenter. Vorigen Monat machte der Philosoph, der mit der Frage „Wer bin ich –  und wenn ja wie viele?“ berühmt wurde, im „Spiegel“ seinem Zorn gegen den „verlogenen Menschenrechts-Bellizismus“ Luft. Zwischen den Zeilen gibt er deutlich zu verstehen, dass es ihm egal ist, was in Afghanistan mit der emanzipationswilligen Bevölkerung geschieht. Die Verdienste der Bundeswehr schrumpfen bei ihm darauf zusammen, dass diese „am Hindukusch einigen Menschen das Leben gerettet, ein paar Straßen friedlich gemacht und ein paar Frauen und Schulkindern das Leben erleichtert hat.“
Es sind Fragen von Leben und Tod, die hier verhandelt werden. Der Philosoph, der nicht genau weiß, ob – und wenn ja wie viele er ist, spricht lieber von „feinen Dingen“.  Allerdings vergeht ihm der Distanz-Jargon, wenn er daran denkt, dass die Bundesregierung „durch ihre Afghanistan-Abenteuer“ die Bundesrepublik „fahrlässig zur Zielscheibe von Terroristen“ macht.
Derselbe Gedanke („Wir sind, wenn wir uns nirgends militärisch engagieren, kein Ziel mehr für den Terrorismus“) findet sich in dem offenen Brief, den Martin Walser bereits im Juli an die Bundeskanzlerin geschrieben hat. Nun kann man Walser wahrlich nicht vorwerfen, dass er es sich im allgemeinen zu leicht machte – um so unbegreiflicher ist mir, wie dieses sonst tief in sich selbst bohrende Urgestein der naiven Hoffnung verfallen kann, der zuverlässigste Weg, sich aus der Schusslinie zu bringen, liege darin, die Waffen zu strecken. Natürlich ist es höchst respektabel, wenn Walser glaubt, dass „Kriege unter gar keinen Umständen zu rechtfertigen“ seien. Aber dann muss er so wie Sokrates, Jesus, Hamlet auch das „Nichtsein“ als Preis für diese höchst respektable Haltung in Kauf nehmen. Pazifismus, der darauf schielt, die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen, ist ein moralischer Taschenspielertrick.
Eben diese Inkonsequenz ist es, die mir den aktuellen Pazifismus so schwer erträglich macht: Zwar hält man den Westen en gros für eine so fragwürdige Kultur, dass man ihm pauschal das Recht abspricht, sich auch mit Gewalt gegen die zu verteidigen, die ihn ihrerseits mit äußerster Skrupellosigkeit attackieren. En détail möchte man in Berlin, Köln oder am Bodensee seinen Rotwein aber auch weiterhin in Ruhe genießen können.
Und ich frage mich, wieso der aktuelle Pazifismus nicht ohne seinen Schatten „Anti-Amerikanismus“ auftreten kann. So klassifiziert etwa Precht in seinem Essay den American Way of Life als „die erfolgreichste Massenvernichtungswaffe des 20. Jahrhunderts“. Darf man daraus schließen, dass Herr Precht lieber in einem System aufgewachsen wäre, das dem milden Reich des Sowjethumanismus angehörte?
„Freedom isn’t free“. Dieser Satz, der sich auf Deutsch nur etwas umständlich übersetzen lässt als „Freiheit ist nicht kostenlos zu haben“, macht den Kern des US-amerikanischen Selbstverständnisses auf. Wir Deutschen dagegen scheinen immer noch zu glauben, dass die Freiheit, die uns die Amerikaner nach 1945 beschert haben, ebenso kostenlos war wie die Kaugummis, die sie an die deutschen Jungs und Mädels verteilt haben – und die ihnen manch intellektueller Zeitgenosse heute noch vorwirft.
Ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne, ein bisschen Liebe – das war die Haltung, in der es sich Deutschland nach seinem barbarischen „Und-morgen-die-ganze-Welt“-Geschrei gemütlich gemacht hatte. Es könnte an der Zeit sein, die Kinderdisco zu verlassen.
In ihrer jüngsten Regierungserklärung zum Afghanistan-Einsatz hat die Bundeskanzlerin darauf hingewiesen, dass „die Folgen von Nichthandeln“ uns „genauso zugerechnet“ werden, „wie die Folgen von Handeln.“ Damit formuliert sie das moralische Dilemma, in dem wir stecken, und beweist ein größeres Gespür für die Tragik der Zeit als unsere Intellektuellen.
Wann hat man sich im Kampf für ein gerechtes Ziel die Hände so schmutzig gemacht, dass man seine moralische Überlegenheit verspielt hat? Wie geht man mit der Schuld um, die man im Krieg zwangsläufig auf sich lädt? Die Diskussion darüber darf nicht den Militär-Strategen mit ihrem Unwort vom „Kollateralschaden“ überlassen werden.
Was heißt es, die Idee der Freiheit und der Menschenrechte in einer Welt zu verteidigen, in der die Globalisierung –  die wir selbst initiiert haben – uns nun zwingt, mit archaischen Stammesgesellschaften zu Recht zu kommen?  An wie vielen Brandstellen der Welt gleichzeitig kann der Westen sich und das, wofür er steht, verteidigen?
Was bedeutet „Krieg“ für Generationen, die einen solchen nie am eigenen Leib erfahren haben und also leichtfertig dem Irrtum aufsitzen könnten, es handele sich um ein verschärftes Rollenspiel?
Und wie gehen wir als Öffentlichkeit mit getöteten deutschen Soldaten um? Ein apartes Denkmal am Rande des Verteidigungsministeriums wird nicht genügen.
Es ist unredlich, sich diese quälenden Fragen von der Seele zu halten, indem man sich hinter einem Vulgärpazifismus verschanzt, den im eigenen Leben durchzuhalten man keinen Moment bereit wäre.

Zuerst erschienen in: DIE ZEIT Nr. 39 vom 17. September 2009

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