Es ist noch nicht lange her, da hatte ein Arbeitsgericht in Stuttgart die Klage einer ostdeutschen Frau abgelehnt, die den Verdacht hegte, ihre Bewerbung als Buchhalterin sei aufgrund ihrer Herkunft aus den neuen Bundesländern abgelehnt worden. „Ossis“ seien kein eigener Volksstamm, keine Ethnie, erklärte das Gericht. Dass dem so sei, hatte nämlich der Anwalt der Klägerin behauptet und folglich Diskriminierung unterstellt. Er führte u.a. den Duden an, in dem Ethnie definiert werde als eine „Menschengruppe mit einheitlicher Kultur“. Der Anwalt: „Wenn die Sorben in Sachsen und die Dänen im Norden Ethnien sind, warum dann nicht die ehemaligen DDR-Bürger?“
Der Vorsitzende Richter entgegnete: „Unter ethnischer Herkunft ist mehr zu verstehen als nur regionale Herkunft.“ Abgesehen von der Herkunft aus dem Gebiet der ehemaligen DDR fehle es bei den „Ossis“ an einheitlichen Merkmalen in Tradition, Sprache, Religion, Kleidung oder Ernährung. Außerdem habe die DDR nur wenig mehr als eine Generation, nämlich 40 Jahre lang, eine von der Bundesrepublik unterschiedliche Entwicklung genommen.
Es ist zu begrüßen, dass das Gericht die Klage abwies, denn die Bewerbung offenbarte sechs Rechtschreibfehler allein im Anschreiben, keine Qualifizierung als Bilanzbuchhalterin, eine lange Anfahrt, einen falschen Name in der Anschrift und auch Zeugnisse waren keine beigefügt. Die Argumentation des Richters aber ist fragwürdig und ebenso die des Rechtsanwalts.
Denn in der Tat stellt sich die Frage, warum die Dänen in Schleswig-Holstein eine ethnische Minderheit sein sollen, sprechen sie doch dänisch und haben auch sonst keine eigene Religion oder Kultur vorzuweisen. Nur noch die Hälfte aller Sorben spricht sorbisch, also etwa 30.000 Menschen. Ganz offensichtlich ist die Pflege dieser Sprache ein sicher hübsches aber ausgefallenes Hobby einzelner. Die Assimilation ist freiwillig und fußt auf der schlichten, selbst in der Lausitz um sich greifenden Erkenntnis, dass wir nicht mehr im Mittelalter leben und man auf Sorbisch nicht einmal in den sorbischen Heimatdörfern einen Big Mac bestellen kann.
Was also macht die Sorben zur Ethnie? Nun, bei Volksfesten tragen sie gerne Trachten. Und dann wären da noch so hübsche Bräuche wie die Vogelhochzeit, das Hexenbrennen, Hahnrupfen, Hahnschlagen und Maibaumwerfen. Bei den drei letztgenannten geht es um genau das, was die Begriffe implizieren. Beim Hahnrupfen etwa reiten sorbische Burschen auf Pferden durch eine Pforte, an deren Querlatte ein toter Hahn hängt, und versuchen, ihm den Kopf abzureißen. Beim Hexenbrennen in der Walpurgisnacht wird eine vorher zum Tode verurteilte Strohpuppe, die für alles Böse des vorherigen Jahres verantwortlich gemacht wird, auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Finanziert wird dieses finstere vorzivilisatorische Mittelalterfestival auch durch Steuergelder.
Im Mai 2008 forderte der Verband der Sorben »in größter Sorge um die sorbische nationale Substanz« die Kürzung der Zuschüsse durch den Bund rückgängig zu machen und der anerkannten »nationalen Minderheit« wieder jährlich 16,4 Millionen Euro zu überweisen. »Erstmals in der Geschichte des sorbischen Volkes«, so erklärte damals der sorbische Dachverband stolz, habe er daher eine Demonstration in Berlin organisiert. Das stimmte aber nicht. Bereits 2005 marschierte beim Berliner „Karneval der Kulturen“ eine sorbische Trachtengruppe in Berlin auf. Das war zwar nicht als Demonstration gemeint, es ging aber um nichts anderes als bei der Demonstration drei Jahre später: um Trachten und Folklore-Schnickschnack.
Was macht die sorbische oder auch die friesische Kultur so schützenswert? Im „Ossi“-Prozess in Stuttgart wurde von beiden Seiten behauptet, eine Ethnie zeichne sich durch eine „eigene kulturelle Identität“ aus. Hat ein „Ossi“ so etwas? Und wenn ja, ist das etwas, was man schützen und pflegen sollte? Definitiv hat ein kiffender Hippie aus Neukölln mehr kulturelle Schnittpunkte mit einem kiffenden Rastafari aus Jamaika als mit Oma Schulze aus Wilmersdorf. Und pflegt nicht vielleicht Oma Schulze aus Wilmersdorf eine recht ähnliche kulturelle Identität wie die katholisch-keusche sorbische Kindergärtnerin in Cottbus? Wenn es wirklich um „kulturelle Identität“ ginge, sind dann Punks, Skins, Veganer, Kleingärtner, Opernfreunde, Hells Angels und Borussia-Dortmund-Fans auch schützenswerte Minderheiten, die Staatsgelder für ihre Brauchtumspflege kassieren sollten? Bei den Opernfreunden scheint es so zu sein. Ihre Kultur wird ausgiebig subventioniert. Die der Hells Angels aber noch nicht.
Es zeigt sich, dass das ganze Gerede von Völkern und Ethnien, Nationen und auch von Kulturen ein einziger Identitätsquatsch ist, denn alle Grenzen sind fließend. Das kann der Autor im Übrigen auch an seiner eigenen Person darlegen, besitzt er doch zwei Staatsangehörigkeiten von Ländern in denen er noch nie gelebt hat und dessen Sprachen er nicht beherrscht.
Und wenn Shlomo Sand in seinem jetzt auch auf Deutsch vorliegenden, in Israel höchst umstrittenen Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ nun darlegt, weshalb auch das „jüdische Volk“ gar kein „Volk“ sei, so lässt sich einfach entgegnen: So what? In Israel gibt es ein Gesetz, das zwar umstritten ist, weil es inzwischen in der Praxis zu einigen komplizierten Konsequenzen führt, und das zwar vom Namen her Unsinn ist, vom Prinzip her aber vorbildlich: das „Rückkehrrecht“. Es basiert auf den Nürnberger Rassegesetzen. Wer jüdisch genug ist, von den Nazis vergast zu werden, so die Logik des Gesetzes, der ist auch jüdisch genug, um in Israel einwandern zu dürfen und Schutz zu erhalten. Die ethnische Definition erfolgt durch den Feind. Und das ergibt Sinn.
Fragen wir einen Experten, was würde der Stuttgarter Richter zum Fall der Juden sagen? „Einheitliche Merkmale in Tradition, Sprache, Religion, Kleidung und Ernährung“? Teilsteils. Die Vorliebe für Falafel und Zirkumzision teilen sie mit den Arabern. Und die Bagels? Sind im Grunde türkische Simits ohne Sesam, quasi bayerische Brezeln mit nur einem Loch. Ist, wer nicht koscher lebt, kein Hebräisch oder Jiddisch spricht und keine Kippa trägt, deswegen kein Jude? Sag das mal den Antisemiten!
Sollten Juden eines fernen Tages keine Angst mehr haben müssen, jemals wieder diskriminiert und verfolgt zu werden, dann wäre dies tatsächlich der Zeitpunkt, die Traditionen und die Religion nur noch als Privatangelegenheit eines jeden Einzelnen zu betrachten. Es gibt nur eine rationale Legitimation dafür, sich unbedingt als Gemeinschaft, Ethnie, Nation oder Volk definieren zu wollen, nämlich aus Schutz, wenn man von außen als Angehöriger einer solchen Gruppe bzw. einer Minderheit definiert und diskriminiert oder verfolgt wird. Sich für Kurden, Basken, Tibetaner einzusetzen, ist nur so lange sinnvoll, wie sie als Kurden, Basken oder Tibetaner verfolgt werden. Als es während des Franco-Regimes den Katalanen verboten war, katalanisch zu sprechen, war das Verwenden der Sprache quasi ein antifaschistischer Akt. Nun ist es ihnen aber in jeder Hinsicht erlaubt. Sollen sie es doch einfach machen oder es sein lassen, aber bitte nicht so ein Gewese darum veranstalten.
Übrigens haben weder die Dänen noch die Sorben und Friesen in Deutschland mit Diskriminierung zu rechnen, lediglich die vierte anerkannte „nationale Minderheit“, die Roma und Sinti, werden immer wieder rassistisch stigmatisiert und ausgegrenzt, weswegen ihnen auch der notwendige Schutz gebührt.
Diskriminierung und Verfolgung ist aber nicht das, was Organisationen wie die Gesellschaft für bedrohte Völker mit „Bedrohung“ meinen, wenn sie sich um bestimmte Gemeinschaften kümmern. Die „Bedrohung“ wird vielmehr im „Aussterben“ des jeweiligen „Volkes“ gesehen. Umso mehr verwundert es, dass in der Liste, jener „Völker“, um die sich die Gesellschaft kümmert wie andere um aussterbende Tierarten, zwischen Osseten, Osttimoresen, Papua, Paschtunen und Patani die Palästinenser aufgeführt werden, derer es seit ihrer Entstehung vor rund 40 Jahren immer mehr statt immer weniger gibt. Genaugenommen haben sie den weltweit höchsten Bevölkerungszuwachs von 4,4 Prozent pro Jahr. Aber was macht aus diesen boomenden Palästinensern überhaupt ein „Volk“?
Vor dem Stuttgarter Arbeitsgericht jedenfalls wären sie mit ihrer Volks-Masche nicht durchgekommen: Keine „eigene Sprache, Religion, Kleidung oder Ernährung“, Außerdem haben die palästinensischen Gebiete nach dem Sechstagekrieg ebenfalls nur wenig mehr als eine Generation, nämlich 43 Jahre lang, eine von Jordanien bzw. Ägypten unterschiedliche Entwicklung genommen. Und selbst ihre Leitkultur, den eliminatorischen Judenhass, müssen die Palästinenser sich mit vielen anderen Völkchen des Erdballs teilen.
Fassen wir zusammen: „Ossis“ und Palästinenser sind sich alles in allem gar nicht so unähnlich. Und deshalb hatten sowohl der Anwalt der ostdeutschen Klägerin Recht als auch der Richter, der gegen ihn urteilte. Das ist unmöglich? Stimmt. Es ist vielmehr so: Beide hatten Unrecht: Denn wer anfängt, in dieser ganzen Ethno-Soße nach Wahrheiten zu suchen, der kann nur in der Esoterik, im Kulturrelativismus, in rassistischem, nationalistischem oder völkischem Denken oder schlicht im Nonsens landen. Wir sind kein Volk! Und das ist gut so.