Rainer Bonhorst / 18.04.2010 / 16:10 / 0 / Seite ausdrucken

Mit Hängen und Würgen

Großes Hängen in England. Alle Welt spricht dort vom “hung parliament”. Die Spitzenkandidaten von Labour (Gordon Brown) und Tories (David Cameron) liegen nah genug beieinander, um ihr großes Ziel, die absolute Mehrheit, grandios zu verpassen. Nick Clegg, der Chef der kleineren Liberaldemokraten, ist der lachende Dritte. Er lacht noch mehr seit der “historischen”, weil im Vereinigten Königreich erstmaligen Fernsehdebatte der großen Drei. Clegg hat dabei am besten abgeschnitten und die beiden eigentlichen Zampanos blass aussehen lassen. Er erwies sich als ein so telegener Debattierer, dass er die aufkommende Euphorie seiner liberalen Anhänger dämpfen musste. Er sei, obwohl schon so bejubelt, kein englischer Barack Obama. Womit er recht hat.

Als Kontinentaleuropäer fragt man sich, was das ganze Gerede vom hängenden Parlament soll. Wenn keiner eine absolute Mehrheit bekommt, sollen sie halt eine Koalition machen. Wer das sagt, vergisst aber, dass die Wahlen in einem traditionsbewussten Inselkönigreich stattfinden. Und die englische Tradition ist nun mal anders. Was bei uns (außer in Bayern) seit Jahrzehnten normal ist, nämlich Koalitionsregierungen zu bilden, ist im Königreich verpönt. Wenn einer keine absolute Mehrheit bekommt, hängt das Parlament. Basta. Man macht lieber eine Minderheitsregeirung als eine mit einem Partner. Das System will es so.

Es sei denn das ändert sich demnächst. Jede Minderheitsregierung braucht ja einen, der sie duldet. Und das sind die Liberaldemokraten. Die dulden im Zweifel vieles, aber nicht mehr das bisherige Wahlsystem. Es hält die einst bedeutende liberale Partei seit fast einem Jahrhundert von der Regierung fern. (Und es begründet die Abneigung gegen Koalitionen.)

Prozentsätze sind in englischen Wahlen Nebensache. Selbst mit weniger als vierzig Prozent der Stimmen kann man dort absolute Mehrheiten erringen. Denn den Unterhaussitz gewinnt, wer seinen Wahlkreis gewinnt. Von der Partei zugeteilte Listenplätze? Nein. Sowas ist ja auch nur bedingt demokratisch. Das englische System geht so: Ein Wahlkreis, ein Kandidat. Oder: First past the post. Oder auch: Winner takes all.

Dieses System ist prima für die beiden Großen, weil es meist stabile Mehrheiten bringt. Es wird aber als ungerecht empfunden, weil es so viele ewige Zweite gibt, die leer ausgehen. Vor allem bei den Liberaldemokraten. Und die wollen das ändern: in ein System mit europäischerem Antlitz.

Es hängt also einiges an der Wahl am 6. Mai. Vielleicht schafft es ja Cameron oder gar Brown mit Hängen und Würgen. Vielleicht hängt das Parlament aber tatsächlich. Dann werden die Liberaldemokraten ihren Einfluss zu nutzen versuchen, um das Wahlrecht zu ändern. Ob es gelingt? Gut für die Liberalen wäre es ja, aber es wäre eine Revolution. Ebenso gut könnten die Engländer beschließen, mit ihren Autos auf der richtigen Straßenseite zu fahren. Oder dem Euro beizutreten. Eine gewisse Skepsis ist also angebracht.     

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