Gastautor / 20.06.2016 / 06:10 / Foto: Tim Maxeiner / 7 / Seite ausdrucken

Eine Anklage: Journalismus und Autismus

Von Dr. med Mattias Schäfer.

Man ist ja an viele Unzulänglichkeiten in der deutschen Presse gewohnt. Aber was kürzlich (15.06.2016) in DIE WELT unter dem Titel „Der Mann, der gegen alles kämpft, was links ist“ erschienen ist, ist schon eine politische Indoktrination der besonderen Art und eine journalistische Ungehörigkeit sondergleichen.

Warum? Oberflächlich gelesen, wird lediglich ein seltsamer Zeitgenosse portraitiert, der offenbar, um es umgangssprachlich auszudrücken, „nicht mehr alle Tassen im Schrank hat“, und durch offensive, inhaltlich und sprachlich sonderbare Emails an Redaktionsstuben in den Focus der Autorin geraten ist und natürlich AfD wählt. Achja, „Reichsbürger“ ist er auch noch. Herausgekommen ist also ein Text, der in der Assoziation gipfelt, AfD-Wähler (interessanterweise auch hier ein ehemaliger SPD-Wähler) gehören zu jener offenbar nicht recht zurechnungsfähigen, aber natürlich nicht abgrundtief bösen Gruppe Menschen, zu der der geneigte Leser nicht gehören will und soll und von der man sich möglichst weit distanziert (inclusive der Wahlpräferenz).

Ansonsten ist der Erkenntnisgewinn für den normalen Leser gleich null und man hat den Eindruck, dass der Text nur entstanden ist, weil der zuständigen Redakteurin die Argumente für den Kampf gegen die AfD und gegen rechts im Allgemeinen ausgegangen sind.

Zugegeben, die (Ab-)Wertung ist subtil, und man muss der Autorin lassen, dass sie eine wirklich ausgezeichnete Beobachtungsgabe hat. Leider nur zieht sie die falschen Konsequenzen aus ihren Beobachtungen. Denn der, den sie da in aller Deutlichkeit und nur mit oberflächlich angedeuteter Empathie schildert, hat offenbar alle Anzeichen einer Autismus-Spektrum-Störung, einer Erkrankung, die im Erwachsenenalter erst langsam in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät und wahrscheinlich viel zu wenig behandelt wird.

Einige Punkte, die das illustrieren sollen, seien aufgezählt: Denn Patienten mit ASS lassen sich erkennen an gewissen Kern- und Begleitsymptomen, die ich der Einfachheit halber aus einem für jedermann (auch für WELT-Redakteure) frei verfügbaren Übersichtsartikel im Deutschen Ärzteblatt entnehme und ich stelle ihnen die entsprechenden Textpassagen aus dem WELT-Artikel gegenüber.

Das wichtigste Symptom ist wohl die Störung der sozialen Interaktion: Häufig besteht ein Einzelgängertum und geringes Interesse an Initiierung und Aufrechterhaltung von Freundschaften, insbesondere gegenüber Gleichaltrigen. Frau S. von der WELT über Herrn S.: „Immer lebte er allein. Er hat keine Freunde, zur Familie kaum Kontakt.“ Sie zitiert ihn auch direkt, er sage, er brauche niemanden, sei ein schwieriger Mensch.

Dann die Störung der Kommunikation: Wahrnehmung und Einsatz nonverbaler Kommunikation sind deutlich eingeschränkt, der Augenkontakt kann sich flüchtig oder auffallend starr gehalten präsentieren und wird kaum kommunikativ eingesetzt. – Im Artikel verblüffend gut bemerkt: „Die Sache ist bei Herrn S. aber so, dass niemand seine Augen bemerkt – zum einen weil er so schnell geht, aber auch, weil er niemanden ansieht auf seinem Weg.“

ASS-Patienten mangelt es häufig an Verständnis sozial-pragmatischer (beispielsweise implizite Aufforderungen, Redefloskeln) oder semantischer Inhalte (zum Beispiel Ironie, Metaphern), wodurch die Kommunikation formalistisch geprägt bleibt. – Die im Artikel zitierten Emails sind ein beredtes Beispiel dieser formalisierten Ausdrucksweise, die unpersönlich, sprunghaft und zum Teil wirr und unlogisch wirkt.

Eingeschränkte Interessen und repetitive Verhaltensmuster: Die Interessen und Aktivitäten von ASS-Patienten sind gekennzeichnet durch die intensive Beschäftigung mit umschriebenen Wissensgebieten (in diesem Fall mit Politik und bestimmten Teilgebieten des Ingenieurswesens. Gut beobachtetes Beispiel ist das wiederholte Betrachten eines Youtube-Videos über einen Hubschrauber-Bau. Technische Geräte können Autisten oft stundenlang betrachten).

Einschränkungen der kognitiven Flexibilität können anhand ungewöhnlicher Ordnungsvorlieben und ritualisierter Alltagsabläufe deutlich werden (im Artikel schön beschrieben ist die in einem Schraubglas luftdicht und hygienisch gesammelte Zigarettenasche, aber auch der penibel geführte Tischkalender mit allen Tätigkeiten bis hin zu der Zusammensetzung der Mahlzeiten). An diesen Ritualen wird auffällig starr festgehalten weil deren Unterbrechung Veränderungsängste hervorrufen. Frau S. beschreibt auch das sehr schön: Herr S. geht fast jeden Tag zur gleichen Zeit spazieren, muss „jetzt“ zurück zur Arbeit, und raucht offenbar ungewöhnlich viel, weil sein Tagesablauf durch den Besuch der Journalistin aus dem Gleichgewicht gebracht wurde.

Es ließen sich noch mehr Beispiele aus dem Artikel bringen: Beispielsweise können sich autistische Menschen aus irgendeinem Grund fast alle an fließenden Gewässern begeistern – "Herr S. geht jeden Tag am Rhein spazieren und die Autorin notiert, diesmal tatsächlich nicht ohne Empathie: „… der Kampfschlesier und Reichsbürger freut sich, dass sein Zigarettenpapier den Rhein nicht verdreckt hat. Das weiß ich nach diesem Tag mit Herrn S."

Ich bin mir der Fragwürdigkeit bewusst, aus der Ferne, aus zweiter Hand gewissermaßen, eine Verdachtsdiagnose stellen zu wollen und habe lange überlegt, ob ich diesen Text überhaupt schreiben soll, schließlich ist der, um den es geht, in seiner Anonymität (die nur eine scheinbare ist, denn alle Redaktionsstuben dürften seinen Namen wissen) außen vor und kann sich nicht verteidigen.

Aber eben, es geht mir nämlich ausdrücklich um die Verteidigung dieses Mitmenschen und -bürgers, der es offenbar nicht leicht hat (ob meine Vermutung zutrifft oder nicht) und den als AfD-Wähler vorzuführen wirklich die unterste Schublade der politischen Publizistik ist. Ich wünsche mir, dass dieser Mensch Hilfe und Unterstützung bekommt, und nicht als ein Werkzeug in einem weiteren Artikel im Kampf „gegen rechts“ missbraucht wird.

Wenn schon ein Artikel über Herrn S., dann hätte mit Empathie und weiterer Recherche daraus ein gutes Stück über die Abgehängten und sozial Isolierten in unserer Gesellschaft werden können, die zu integrieren eine nicht weniger verdienstvolle Aufgabe ist als die von Flüchtlingen. Vielleicht sollte Frau S. ihr unwiderlegbar gut entwickeltes journalistisches Handwerk etwas gesinnungsfreier einsetzen, dann wird sie sicher Großes schreiben. So aber hat dieser Artikel nur einen Shitstorm verdient.

Dr. med. Mattias Schäfer (38) ist Arzt und forscht derzeit an der Harvard-Universität, Cambridge und am Children’s Hospital in Boston, USA.

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

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Gabriele Nilsen / 20.06.2016

Schwierig aus der Ferne, SIe schreiben es selbst. Trotzdem ist das Thema ein gutes. Was man staendig erlebt ist, dass Einsamkeit als Stigma verwendet und unterstellt wird. Das kann in Foren sein, wo “gute” Menschen andere verletzen wollen fuer eine “gute” Sache, das geschieht in den Medien, wenn Personen als negativ wahrgenommen werden sollen. Sogar z.B. A. B. Breivik wurde erst mal als sozial inkompetenter “Einzelgaenger” dargestellt, was ja absurd ist. Ja, sehr schade, dass sehr, sehr oft anstatt den Einsamen, die dies moechten, eine Hand auszustrecken, Einsamkeit mit Bosheit gleichgesetzt wird.

Marco Mahlmann / 20.06.2016

Sie haben sicher recht damit, daß die WELT den Mann nicht so hätte vorführen dürfen. Ihre Attitüde, nach der Asperger - S. soll wohl einer sein - “Hilfe und Unterstützung” brauchen, ist aber kaum besser, suggerieren Sie doch, daß Leute, die nicht normal sind, automatisch krank und hilfsbedürftig sind. Autisten sind anders. Wenn Normale damit nicht klarkommen, ist das deren Problem. Das sollte man sich nicht nur am 18. Juni, dem “Autistic-Pride-Day”, bewußt machen.

Dr. med. Reinhard D. Beise / 20.06.2016

Vielen Dank an Herrn Dr. Schäfer für seine berechtigte Kritik an dem Artikel zum „Kampfschlesier“ in der WELT vom 15.06.2016. Die Beschreibungen der zahlreichen Auffälligkeiten des Betroffenen zeigen in der Tat stark in Richtung eines Autismus-Störung des Erwachsenenalters mit begleitender Zwangsstörung („Er würde gerne aufhören…Aber er kann nicht“) und schizotypische Persönlichkeitsmerkmale wie eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit („Er sieht in der Nachricht die Lüge, im Leitartikel die Verleumdung, in der Analyse die Ideologie. Überall linke Lügen“). Der gesamte Artikel lässt einen nicht unerheblichen Leidensdruck erkennen. Fachlich und menschlich wünscht man dem Betroffenen kompetente therapeutische Unterstützung und nicht die Präsentation als Zirkusattraktion vor einer staunenden Leserschaft.

Sandra Hofmann / 20.06.2016

Offensichtlich ist heute jedes Mittel Recht im Kampf gegen AfD und gegen Rechts. Traurig, das nun sogar so ein Mensch dafür herhalten muss.

Andreas Rochow / 20.06.2016

Leider ist es nicht ungewöhnlich, nicht einmal selten, dass Journalisten psychiatrisches Halbwissen in ihre Texte einfließen lassen. Gelegenheit dazu bietet sich en masse. So wird - wie im Falle von Sascha Lewandowski - ein Burnout als Suizidgrund phantasiert und diagnostisches Vokabular instrumentalisiert, um Persönlickeiten - je nach Absicht - positiv oder negativ zu etikettieren. In der Migrationsdebatte grassiert aktuell die Behauptung von der hohen Inzidenz posttraumatischer Belastungsstörungen (“mindestens jeder zweite ist traumatisiert”), was eine unhaltbete Aussage ist, die auch die vorhandenen Therapiekapazitäten hoffnungslos überfordern würde. Dass eine Person wie in der zitierten Welt-Reportage so als unausgesprochen “psychisch akzentuiert” vorgeführt wird, gehört eher nicht zu dem von mir beklagten Missbrauch. Beim nochmaligen Lesen bin ich mir nämlich im Klaren darüber, dass die Autorin ihre (diagnostische) Ratlosigkeit zum Anlass genommen hat, so fotografisch und objektiv wie möglich ihr Objekt als kettenrauchenden, völlig isolierten, emotions- und hemmungslos Kaputten zu beschreiben. Der unkritische Leser soll schlussfolgern: AfD - ach solche Typen sind das. Das kommt auf jeden Fall als mainstreamig und politisch korrekt rüber. Die journalistische Schäbigkeit liegt im vorliegenden Fall darin, dass der Informand nicht geschützt sondern vorgeführt wird. So verständlich es ist, dass der (junge) Psychiater Diagnostik und Therapie für dringend geboten hält, ist diese Art der Öffentlichkeit ganz sicher ungeeignet, den Einzelfall mit einer Ferndiagnose versehen zu einem Psychiatriepatienten machen zu wollen.

Bertram Scharpf / 20.06.2016

Vielen Dank, daß Sie diesen Artikel geschrieben haben. Die medizinischen Details über den Splitter im Auge von Herrn S. sind sehr interessant. Wenn wir allerdings die Frage aufwerfen, ab wann ein Verhaltensmuster die Bezeichnung „Erkrankung“ verdient, müssen wir auch über den Balken im Auge der Journalistin reden.

Christian Ahrends / 20.06.2016

Danke für diesen Artikel! Ich werde nie verstehen, wie Phobien aller Art (Homophobie, Islamophobie usw.) in Vorwürfe verwandelt und inzwischen auch zu Instrumenten politischen Gesinnungsterrors gewendet werden konnten. Waren wir nicht schon viel weiter, um zu wissen, dass menschliche Ängste durch Denunziationen und Verleumdungen nicht verschwinden, sondern sich immer weiter steigern? Dieses Land macht mir inzwischen Angst, habe ich also Germanophobie?

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