Vor 80 Jahren, am 9. August 1942, wurde Edith Stein in Auschwitz ermordet. Klaus-Rüdiger Mai gelingt mit seiner Biographie Edith Steins ein facettenreiches und lebendiges Bild der Philosophin, Frauenrechtlerin, Jüdin und Katholikin.
Klaus-Rüdiger Mai, Jahrgang 1963, ist bislang vor allem als Verfasser von Biographien und historischen Romanen, die in der Renaissance und frühen Neuzeit zu verorten sind, sowie als tagespolitischer Kommentator bekannt geworden. Nun hat der Autor, der Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert hat, eine Biographie Edith Steins geschrieben. Im Nachwort nennt er seine Beweggründe dafür: So sehe er „das Leben von Edith Stein als einen noch unentdeckten Schlüssel für die deutsche Geschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie offenbart sich als das Pendant, nicht nur zur Existenzphilosophie von Heidegger und auch von Karl Jaspers, sondern auch zur Frankfurter Schule, zu dem ungleich bekannteren Walter Benjamin beispielsweise“.
In der Tat setzt sich Mai vor allem mit Edith Stein als philosophischer Persönlichkeit auseinander. Er gesteht: „So interessierte mich ‒ man sehe es mir nach ‒ nie die Heilige, sondern die Suchende. Und das war sie, schutzlos suchend.“ Dabei hält er sich nicht immer distanziert zurück, sondern tritt auch schon mal in Dialog mit ihr: „Häufig hat Edith Stein meinen Widerspruch herausgefordert, häufiger aber noch meine Bewunderung für die Konsequenz und Schlüssigkeit ihres Denkens.“
Letztlich reizte es Mai, die Lebensgeschichte Edith Steins „als den großen biografischen Roman zu erzählen, der er in Wahrheit ist“. Deshalb habe er versucht, „Edith Stein in ihrer Zeit und aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, und nicht die Zeit zum Anhängsel ihres Lebens zu machen“. Und um es vorweg zu nehmen: Das gelingt Mai rundum. In seinem Buch wird Edith Stein als Mensch, als Suchende, als Denkerin ihrer Zeit lebendig.
Tochter einer selbstständigen und erfolgreichen Frau
Mai steigt im Jahr 1933 ein, einem Schicksalsjahr sowohl für Deutschland als auch für Edith Stein. Denn in diesem Jahr besuchte Edith Stein, Jahrgang 1891, zum letzten Mal ihre Mutter in ihrer Heimatstadt Breslau, bevor sie dem Karmeliterorden beitrat und in den Karmel „Maria vom Frieden“ nach Köln zog. Die politische Situation analysiert Mai wie folgt: „Der komplette Zusammenbruch der Kultur, des Rechts und der Demokratie vollzog sich gründlich und so schnell, weil die Staatsorgane zuvor ihre Legitimität selbst infrage gestellt hatten.“ Und weiter: „Eine Regierung kann zwar gestürzt werden, aber niemand vermag die Organe des Staates zu delegitimieren ‒ außer die Organe des Staates selbst.“ Zwar zieht Mai an keiner Stelle des Buches Parallelen zur Gegenwart, doch in Zeiten, in denen das Bundesamt für Verfassungsschutz den „neuen Phänomenbereich“ der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ etabliert, drängt sich für den Leser geradezu unweigerlich ein Aktualitätsbezug auf.
Wie Einzelschicksale in das Zeitgeschehen verstrickt sind, wird exemplarisch deutlich in den komplexen persönlichen Beziehungen im philosophischen Umfeld Edith Steins. So verfasste etwa Martin Heidegger, Edith Steins Nachfolger in der Assistenz von Edmund Husserl, ein Negativgutachten über den jüdischen Philosophen Richard Hönigswald, den ersten Philosophielehrer Steins, der daraufhin als Ordinarius in München abberufen wurde. Außerdem ignorierte Heidegger nach 1933 sogar Husserl selbst aufgrund dessen jüdischer Herkunft. Zwar löste sich auch Edith Stein von Husserl, doch tat sie dies vor allem, um habilitieren zu können, worin sie Husserl, bei dem sie promoviert hatte, wiederum nicht unterstützte, weil sie eine Frau war und er als Aufgabe der Frau „das Heim und die Ehe“ ansah.
Überhaupt kommt Mai immer wieder auf die Unterschiede zwischen Heidegger und Stein zurück, die zwar beide die Philosophie Husserls weiterentwickeln, jedoch in konträre Richtungen: „Im Gegensatz zu Heidegger, der das Ich als in die Existenz geworfen betrachtet, sieht sie [Edith Stein] das Ich als ein empfangendes Ich, das Anteil an Gottes Ewigkeit hat.“
Neben der philosophischen Entwicklung Edith Steins zeichnet Mai plastisch ihre Lebensstationen nach: als Tochter einer selbstständigen und erfolgreichen Frau, die nach dem Tod ihres Mannes einen Holzhandel in Breslau betrieb, als Jüngste von sieben Geschwistern, als Schülerin, als Theatergängerin und Musikliebhaberin, die zu Hause Klavierauszüge von Opern spielte, als jugendliche Reimerin von Scherz-Gedichten, als Freundin, als Studentin der Psychologie, Philosophie, Geschichte und Germanistik, als Krankenpflegerin während des Ersten Weltkriegs, als Lehrerin in Speyer und in Münster, als engagierte Frauenrechtlerin, als Übersetzerin, als Tagungsteilnehmerin und Referentin, als Politikerin und schließlich als Ordensfrau mit dem Ordensnamen Teresia Benedicta vom Kreuz.
Affinität für Geheimnisse
Dabei erfährt man beiläufig interessante Details wie etwa zur Hausbibliothek der Steins, zu den Theaterspielplänen in Breslau oder zu den Vorlesungen, die Edith Stein an der Universität Göttingen hörte. Außerdem analysiert der Historiker Mai differenziert, wie der Erste Weltkrieg ausgelöst wurde. Als roten Faden im Leben Edith Steins sieht Mai einmal ihre Affinität für Geheimnisse und zum anderen ihre tiefe Sehnsucht nach einer unangefochtenen sinnvollen Ordnung. Diese Sehnsucht führte sie schließlich zur Lektüre der Mystiker Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz und zu ihrer Verbundenheit mit der mystischen Kontemplation. Hier ist die Intellektuelle endlich ganz angekommen. Daher auch der Untertitel des Buchs: „Geschichte einer Ankunft.“
Doch 1938 musste Edith Stein zusammen mit ihrer Schwester ins niederländische Karmeliterkloster Echt fliehen, wo sie dennoch 1942 von der Gestapo verhaftet wurde. Schon 1933 hatte sie einen Brief an den Papst geschrieben, in dem sie ihn geradezu anfleht, die Stimme zu erheben: „Alles, was geschehen ist und noch täglich geschieht, geht von einer Regierung aus, die sich 'christlich' nennt. Seit Wochen warten und hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland ‒ und ich denke, in der ganzen Welt ‒ darauf, dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebe, um diesem Missbrauch des Namens Christi Einhalt zu tun.“
Und hellsichtig gibt sie zu bedenken: „Wir sind auch der Überzeugung, dass dieses Schweigen nicht im Stande sein wird, auf die Dauer den Frieden mit der gegenwärtigen deutschen Regierung zu erkaufen. Der Kampf gegen den Katholizismus wird vorläufig noch in der Stille und in weniger brutalen Formen geführt wie gegen das Judentum, aber nicht weniger systematisch. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird in Deutschland kein Katholik mehr ein Amt haben, wenn er sich nicht dem neuen Kurs bedingungslos verschreibt.“ Sie erhielt nie eine Antwort.
Tatsächlich, so Mai, „wollten Hitler, Himmler und Rosenberg nach der 'Endlösung der Judenfrage' die christlichen Kirchen, nicht nur die katholische, zerstören. Da das 'Tausendjährige Reich' dann lediglich zwölf Jahre ‒ von dem natürlich jedes einzelne ein Jahr zu viel war ‒ Bestand hatte, kamen sie nicht mehr dazu“. Mai beschreibt das Bestreben der neuen Machthaber ab 1933, „alles und jeden gleichzuschalten“, prägnant: Sie, die Machthaber, hatten begonnen, „in das privateste Refugium des Einzelnen mit grellem Scheinwerfer hineinzuleuchten, weil sie wussten, dass eben das Private das Residuum und der Quell der Freiheit ist. Deshalb hatten sie das Private vergemeinschaftet und zur politischen Tatsache erklärt. Und über das Politische entschied die Partei oder der in ihren Diensten stehende Staat“.
Seinem Buch vorangestellt hat Klaus-Rüdiger Mai übrigens das folgende Zitat Edith Steins: „Jedenfalls ist das Leben viel zu kompliziert, als dass man ihm mit einem noch so klug erdachten Weltverbesserungsplan zu Leibe rücken und ihm nun endgültig und eindeutig vorschreiben könnte, wie es zu gehen hat.“
Klaus-Rüdiger Mai, Edith Stein. Geschichte einer Ankunft, Kösel 2022.