Hans-Martin Esser / 10.04.2016 / 06:29 / 0 / Seite ausdrucken

Wann der Normalo Geschichte schreibt

„Du schreibst Geschichte, mit jedem Schritt, mit jedem Wort setzt Du sie fort. Du schreibst Geschichte, an jedem Tag, denn jetzt und hier bist Du ein Teil von ihr.“  Das ist die Haupttextzeile des Liedes des gleichnamigen Liedes von Madsen aus dem Jahr 2006, meiner Ansicht nach das Beste, was die deutschsprachige Rockmusik in diesem Jahrtausend zu bieten hatte.

Das Lied hat mit seinen Textzeilen ein bisschen einen Trend vorweggenommen, der in letzter Zeit immer stärker grassiert. 1989 haben die Demonstranten in Leipzig Geschichte geschrieben, auch der 2+4-Vertrag war ein historischer Vertrag, ebenso der Maastricht-Vertrag. Verträge sind also sozusagen die offizielle Geschichte, die von Herrschenden geschrieben wird. Herrschaftsfreie Geschichte vollzieht sich in spontanen oder eruptiven Massenbewegungen. Jahrhunderte lang war das Recht, Geschichte zu schreiben, eher Herzögen, Königen und Kaisern, also dem alten weißen Mann vorbehalten.

Die Geschichtswissenschaft hat sich dann auch eher mit Konstantin dem Großen, Friedrich dem Großen sowie Alexander dem Großen als mit Hänschen dem Kleinen beschäftigt. Der kleine Mann von der Straße, für die kleine Frau gilt Nämliches, war allenfalls der Bauer auf dem Schachbrett, wenn denn überhaupt. Revolutionen sind historische Punkte, die dem anonymen Menschenaggregat die Möglichkeit geben, Geschichte zu schreiben, sollte ihr oder ihm die Rolle des Bauern missfallen, bis wieder neue Hierarchien entstehen, die ihn wieder zum Bauern machten.

Aber seit geraumer Zeit wendet sich auch die Geschichtswissenschaft dem Normalen zu, ohne den als Schwungmasse keine Hierarchie dauerhaft bestehen kann. Das ist gut so. Spätestens als das Time-Magazine 2006 Jedermann im Internetzeitalter zur Person of the year kürte, wurde klar, dass jeder Geschichte schreiben kann. Im selben Jahr entstand ja auch das Lied von Madsen mit den Textzeilen.

Postulierten 1990 mit dem Untergang der osteuropäischen Systeme einige Übereifrige das Ende der Geschichte, damit man das neue Jahrtausend als leeren, sauberen Raum betreten kann, war mit dem 11. September 2001 klar, dass dem nicht so war. Ein neues Zeitalter warf seine Schatten voraus.

Grotesk wird der Begriff vom Schreiben der Geschichte, wenn man sich Sportübertragungen ansieht. Buffon schreibt Geschichte, weil er so viele Ligaspiele in Italien hat wie sonst niemand. Lewandowski schreibt Geschichte, weil er 5 Tore in 12 Minuten schießt. Jogi Löw schreibt Geschichte, weil er als erster Bundestrainer beim Popeln während eines Länderspiels gefilmt wird….

Geschichte kann nicht inflationär sein, sie muss rar sein, sie muss verdichten, pars pro toto zusammenfassen oder es sonst einfach nur ein Geschichtchen. In der Regel geschieht sie eher spontan als geplant. Achten Sie mal drauf: wenn Sportreporter nicht wissen, was sie sagen sollen, kommt der Satz, dass man heute Geschichte schreibe, mit irgendwas. Ach ja, Geschichte kann auf Ebene der Normalen geschrieben werden, ist aber nie belanglos.

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