Cora Stephan / 04.11.2015 / 16:28 / 3 / Seite ausdrucken

Deutschland - vom Ende her gedacht

Was will Angela Merkel? Wo ist ihr Grand Design, wo der Entwurf einer Außenpolitik, die diesen Namen verdient? Was sind ihre Ziele – bei der Griechenlandrettung oder angesichts der Migranten, die nach Deutschland strömen? Hat sie welche? Weiß sie, was sie tut? Oder gibt es übergeordnete Gesichtspunkte, die das dumme Volk nicht versteht?

Die Kanzlerin war und ist ein Rätsel und beschäftigt ihre Interpreten, die sich nicht ganz so wortkarg geben wie die Kanzlerin selbst, die gern in der ganz einfachen Sprache zu ihrem Volk spricht. Eine Antwort lautet: sie will Europa retten.

Was könnte edler sein?

Europa, im ewigen Frieden, war ein schöner Traum. War es nicht die Lehre aus dem selbstzerstörerischen Blutvergießen im 20. Jahrhundert? Und müssen nicht gerade wir Deutschen, angesichts der Vergangenheit, bornierte nationale Interessen dafür opfern?

Dieser Glaube, den Politiker und Meinungsmacher jahrelang gepredigt haben, ist vielen Deutschen mittlerweile gründlich vergangen. Die Evidenzen sprechen gegen den Traum. Die Eurokrise hat gezeigt, dass die gemeinsame Währung Europa nicht geeint, sondern entzweit hat. Und angesichts der Migrantenströme, die Europa durchkreuzen, wird vollends deutlich, dass Europa trotz EU und Euro bleibt, was es war: eine Ansammlung dickköpfiger Völker, die an den Eigenheiten ihrer jeweiligen Vaterländer und an ihren nationalen Interessen eisern festhalten wollen.
Wer will da noch Europa retten?

Genau deshalb könnte man auf die Idee kommen, dass an dieser Interpretation des Rätsels Merkel etwas dran ist. Schließlich verstanden insbesondere die Franzosen unter Europapolitik stets alles, was Deutschlands Macht einzudämmen in der Lage war.  Sofern man das unter friedensstiftenden Maßnahmen versteht, waren EU und Euro gewiss der richtige Weg – man nahm den Deutschen mit der DM ihre Atombombe aus der Hand, wie Mitterands Berater Jacques Attali einst sagte. Auch die deutsche Griechenland“rettung“ könnte so verstanden werden, denn was immer die Kanzlerin anderen Ländern im Sinne einer „Austeritätspolitik“ empfahl: am Ende zahlen die Deutschen, wie Griechenlands ehemaliger Finanzminister Jannis Varoufakis einst hellsichtig bemerkte.  (Über der Migrationsdebatte sollten wir nicht vergessen, dass das griechische Dilemma mitnichten aus der Welt ist.)

Ist die große Geste Angela Merkels, die Grenzen für Hunderttausende von Menschen zu öffnen, von denen man in unzähligen Fällen noch nicht einmal weiß, woher sie kommen, also womöglich ein weiterer Beleg für die These, dass Deutschland sich für Europa opfert? Keines der anderen europäischen Länder ist bereit, die eigenen nationalen Grenzen und Interessen in gleichem Maß zu riskieren, und wenn es jemals einen deutschen Sonderweg gegeben hat, dann ist er hier für alle klar erkennbar: unter Kanzlerin Merkel ist Deutschland ein moralischer Riese. Das Land hat eine Bürde auf sich genommen, die niemand sonst tragen möchte.

Doch damit zeigt sich zugleich, dass unser Land ein Problem bleibt – was immer es ist oder tut.

Militärisch ist Deutschland ein Zwerg, doch ökonomisch noch immer, wenn auch womöglich nicht mehr lange, das Zugpferd Europas. Die Masse der Migranten könnte das womöglich ändern. Denn es kommen nicht die syrischen Ärzte – die in Syrien im übrigen dringender gebraucht werden als bei uns – sondern, soweit wir wissen, überwiegend unqualifizierte junge Männer, viele von ihnen sind Analphabeten. Sie werden den Sozialstaat brauchen, ohne ihm auf lange Sicht zu nützen. Auch hier zeigt sich, wie wenig Europa schon Wirklichkeit ist: ein soziales System wie das der Bundesrepublik funktioniert nur in nationalstaatlichen Grenzen und nur, solange die ökonomische Maschine auf Hochtouren läuft. Deutsche Wirtschaftsmanager aber haben längst aufgehört, dem Ansturm arbeitsfähiger junger Männer zu applaudieren, es gibt hierzulande kaum noch einen Markt für unqualifizierte Arbeit, nicht nur, aber auch wegen der unsinnigen Verpflichtung auf einen Mindestlohn.

Schafft Deutschland sich ab? Hat Thilo Sarrazin recht behalten, der das vor fünf Jahren prognostiziert hat? Und hätte das, so sehr man es bedauern möchte, womöglich friedensstiftende Wirkung?

Oder ist damit nicht eher die Befürchtung des ehemaligen polnischen Außenministers Sikorski eingetreten, der 2011 sagte: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“?

Angela Merkels Verzicht auf nationalstaatliche Souveränität – nichts anderes bedeutet ja ihre These, dass Deutschland seine Grenzen nicht schützen könne – steht der Trend in unseren Nachbarstaaten entgegen, die eigene nationale Identität zu bewahren. Sollte Angela Merkel tatsächlich deutsche Interessen für Europa opfern wollen, so wird es ihr jedenfalls nicht gedankt.

Was soll man also hoffen? Dass unsere Merkel-Interpreten nicht recht haben, dass kein Plan und kein Sinn hinter den großen Gesten der Kanzlerin stehen, erst recht nicht die Rettung Europas?

Ich bin mir nicht mehr sicher, was schlimmer wäre.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Klaus Vater / 07.11.2015

Sorry Frau Stephan, aber einen solch albernen Text wie den über einen „Geheimplan“ bzw. über das „Grand Design“ habe ich lange nicht mehr gelesen. Ganz offenkundig trauen Sie Frauen und Männern in der regierenden Koalition nicht – nicht mehr – zu, einfach ihre Pflicht zu tun. Pflicht tun heißt: Dem zu folgen, was das Grundgesetz, die eigene Lebenserfahrung, vielleicht auch die eigene religiöse Überzeugung dem jeweilig Verantwortlichen auferlegen. Das ist das ganze Geheimnis. Es geht nicht um den „ewigen Frieden“ Immanuels Angedenken, es geht nicht um „große Gesten“ oder darum, ob Deutschland hier klein und da groß ist; es ging um zigtausende Menschen, Frauen - alte und junge, Kinder, alte Männer, junge Männer, Christen und Moslems, die irgendwo in Europa festhingen. Sie konnten nicht zurück, nicht nach links oder rechts, sondern sie konnten nur nach vorne, wenn denn jemand sagte: kommt. In dieser Situation steckt das ganze Geheimnis. Und – sofern Sie eine Lehre von einem bald 70Jährigen akzeptieren – das war eine Situation, die sich aus sich heraus jegliche Taktiererei verbeten hat (ich hätte auch schreiben können: jeglichen Opportunismus). Es gab nur Ja oder Nein. Freilich: Solche Situationen – politisch Handelnden vertraut – sind einen Teil der deutschen Intellektuellen ein Gräuel beziehungsweise ein „Rätsel“. Freundliche Grüße Ihr Klaus Vater  

Hinrich Mock / 04.11.2015

Eine Kanzlerin, die ihre Amtpflichten für nicht machbar erklärt, die Infantilsprache pflegt, anstatt sich deutlich auszudrücken, die deshalb ständig interpretiert werden muß ohne valides Ergebnis, ist eine völlige Fehlbesetzung, ist ein Skandal. Nein, wir werden von dieser Heimsuchung unseres Landes auch nach ihrem hoffentlich baldigen Abschied aus dem Amt nie eine schlüssige und akzeptable Begründung für ihr Tun bekommen. Es gibt sie nicht. In keinem einzigen Fall.

Dr. Joachim Neander / 04.11.2015

Man befürchtet in Polen, wohl nicht zu Unrecht, dass sich Deutschland mit der bedingungslosen Aufnahme von Millionen “Flüchtlingen” (den Familiennachzug eingerechnet) überheben wird. Polen wickelt fast die Hälfte seines Außenhandels mit Deutschland ab, die polnische Wirtschaft ist durch Liefer- und Zulieferverträge eng an die deutsche gekoppelt. Ein Wegbrechen Deutschlands würde Polen unweigerlich in eine schwere Wirtschaftskrise stürzen. Schon allein aus diesem Grunde steht man der Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung sehr skeptisch gegenüber, nicht nur bei den “Rechten”.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Cora Stephan / 06.02.2016 / 17:29 / 8

Der postheroische Mann und andere Verlustanzeigen

Die Masse macht’s. Selten ist der Einzelne das Problem, ob er nun Kriegsflüchtling ist oder sich ein besseres Leben wünscht. In der Silvesternacht aber hat…/ mehr

Cora Stephan / 12.12.2015 / 16:11 / 7

Operettenkrieg

Ich bin keine Pazifistin – und genau deshalb ist mir das moralische Argument für militärische Aktionen suspekt. Es gibt keinen guten Krieg, höchstens ist er…/ mehr

Cora Stephan / 07.12.2015 / 15:24 / 3

Nur noch schnell die Welt retten

Politiker sind Menschen mit ganz wahnsinnig viel Lust – Lust auf Politik, auf die Macht, aufs Regieren, aufs Gestalten. Darauf, etwas „für die Menschen“ zu…/ mehr

Cora Stephan / 26.11.2015 / 09:58 / 11

Wenn Syrer unter den Linden Kaffee trinken…

Polens neuer Außenminister hat sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit gewaltig in die Nesseln gesetzt. Witold Waszczykowski von der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Pis)…/ mehr

Cora Stephan / 20.11.2015 / 10:07 / 1

Staatsversagen, Teil 2

Ich bin in Frankreich, während ich dies schreibe, nicht in Paris, sondern in tiefster Provinz, wo die Hauptstadt fern ist. Vielleicht liegt es auch an…/ mehr

Cora Stephan / 16.11.2015 / 17:28 / 5

Staatsversagen

Es war ein strahlender Sommer und ein wunderbarer Herbst. Doch dann hatte er uns wieder, der November, der deutsche Schicksalsmonat. Weltkriegsende und Novemberrevolution, Reichskristallnacht und…/ mehr

Cora Stephan / 26.10.2015 / 18:43 / 3

Keine Toleranz den Intoleranten

An den westdeutschen Universitäten wurde lange Jahre gelehrt, Deutschlands zwölf dreckige Jahre verdankten sich einem „deutschen Sonderweg“, der es vom „Westen“ ab- und in die…/ mehr

Cora Stephan / 15.10.2015 / 13:30 / 10

Unser Kampf. Antwort auf Thomas Schmid

Es ist die Zeit aufsteigenden Nebels, und das hat nichts mit dem Herbst zu tun, sondern mit den vielen verschleiernden Sprachregelungen, die den öffentlichen Diskurs…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com