Cora Stephan / 20.11.2015 / 10:07 / 1 / Seite ausdrucken

Staatsversagen, Teil 2

Ich bin in Frankreich, während ich dies schreibe, nicht in Paris, sondern in tiefster Provinz, wo die Hauptstadt fern ist. Vielleicht liegt es auch an dieser nicht nur räumlichen Distanz, dass das Leben am Samstagvormittag auf dem Wochenmarkt in Les Vans seinen üblichen heiteren Gang ging. Man saß im „Dardaillon“, aß und trank, redete und lachte und feierte das Leben. Doch ist das nicht genau das richtige in diesem Moment: sich die Freude am Leben nicht nehmen zu lassen? Denn natürlich zielten die Anschläge von Paris - auch – genau darauf: auf leere Restaurants und Clubs, auf Straßen und Plätze ohne eine Menschenseele. 

Nicht mit uns, scheinen die Franzosen zu signalisieren. Trauer um die Toten? Natürlich. Doch zugleich kraftstrotzender (und kraftmeierischer) Aktivismus des Präsidenten – und das Absingen der Marseillaise, auch das nicht gerade ein Lied, das zum gemeinsamen Teetrinken mit dem Feind einlädt.

Von Frankreich aus befremdet manch Statement aus Deutschland, wo Politiker es offenbar wichtiger finden, den inneren Feind (der natürlich „rechts“ steht) zu bekämpfen. Dass „die Rechten“ den Terrorakt „instrumentalisieren“ könnten, wird von Ralf Stegner bis Hannelore Kraft als mindestens zweitwichtigste Botschaft ausgegeben – einen Hinweis, wie man auf mörderischen Terror reagieren will, vermisst der Bürger hingegen. Tabu scheint auch zu sein, über die von der Bundeskanzlerin angeordneten offenen Grenzen zu diskutieren, das sei, so lautet die Parole, eine unangebrachte Vermengung mit der „Flüchtlingsfrage“. Und natürlich dürfe es nun keinen „Generalverdacht“ geben – weder gegen Migranten noch gegen Muslime, eine Warnung, die etwas voraussetzt, wofür ich in der breiten bundesdeutschen Öffentlichkeit keine Anzeichen entdecken kann.

Nun müsste eigentlich jedem klar sein, dass das alles Signale sind, die nicht nur von den deutschen Eingeborenen vernommen werden, an die sie sich richten. Sie kommen auch bei denen an, die mit ihrem mörderischem Terror ihrerseits Signale senden. Die westliche Kultur und ihre Feinde sind kommunizierende Röhren, beide Seiten senden Botschaften aus. Die Mörder von Paris hatten nicht nur die offene und öffentliche Lebensfreude im Visier, sondern wollten Menschen töten, und zwar, jedenfalls in der Konzerthalle Bataclan, offenbar möglichst viele Jugendliche.

Dieses Signal bedarf eigentlich keiner Interpretation, denn das ist ja doch die Achillesferse der meisten westlichen Länder: Kinder sind umso kostbarer, je seltener sie geworden sind, ihr Tod tut besonders weh. Und: was selten ist, riskiert man nicht. Eine alternde Gesellschaft ist ein zahnloser Tiger, sie kann nicht, wie die Gegenseite, eine Vielzahl junger starker Männer zu ihrer Verteidigung ins Feld führen, sondern höchstens eine Rentnerband. Die hohnlachende Botschaft der IS-Terroristen an die postheroische Gesellschaft lautet: seht her, ihr alten weißen Männer, ihr könnt eure Frauen und die wenigen Kinder, die ihr ihnen gemacht habt, nicht beschützen, ihr seid es wert, auszusterben.

Und welche Signale kommen aus Deutschland, geht man nach den Äußerungen seiner führenden Köpfe? Nicht Mitmenschlichkeit, wie es die große Geste Angela Merkels behauptete, sondern Schwäche bis zur Selbstaufgabe. Wer behauptet, dass Staatsgrenzen nicht geschützt werden könnten, hat sich bereits aufgegeben. Tatsache ist, dass geschätzte 300 000 Migranten ohne Registrierung über die Grenze nach Deutschland gelangt sind, von denen man nicht weiß, wer und wo sie sind. Gefährlich ist daran nicht, dass sich unter ihnen ein großer Prozentsatz von Terroristen und Schläfern, also künftigen Terroristen befinden könnte (eine Befürchtung, die im übrigen kein „Generalverdacht“ ist), der Terror kennt andere Wege, um einzusickern. Gefährlich daran ist das Signal, dass Deutschland kein souveränes Land mehr ist, das über seine Grenzen bestimmen kann – und dass Europa das auch nicht mehr kann.

Womöglich ist es eine besondere Perfidie der Terroristen gewesen, dafür zu sorgen, dass ein syrischer Pass bei einem von ihnen gefunden wurde, der darauf schließen ließ, dass er über Griechenland nach Frankreich gekommen ist. Egal – auch das ist ein Signal, das unschwer zu verstehen ist: ihr rühmt euch eurer Mitmenschlichkeit, dabei habt ihr euch lediglich aufgegeben.

Es schadet manchmal nicht, sich durch die Augen der anderen zu betrachten.

Was tun? Man kann die Gefahr durch Terroristen, die bereitwillig ihr eigenes Leben riskieren, nicht ausschließen, das wäre eine Welt, in der wir freiheitsdurstigen Europäer nicht leben wollten. Aber wir könnten zumindest zeigen, dass wir unser Leben und unsere Zivilisation für etwas halten, was schützenswert ist. Und das beginnt an der Außenhaut, an der Grenze, nämlich.

Man möchte in der jetzigen Situation gewiss nicht unter den Besserwissern sein. Und dennoch: es gibt so viele Fragen, die nach einer Antwort verlangen. Die Politiker Frankreichs, Großbritanniens und der USA haben es in den vergangenen Jahren ohne erkennbare Not geschafft, die Region zu destabilisieren, aus der so viele fliehen: in Libyen, in Syrien, im Irak. Weil man auf die Arabellion setzte? Dann hat man sich Illusionen gemacht.
Europa hat es nicht geschafft, Griechenland und Mazedonien schon vor drei Jahren bei der Bewältigung der Migrantenströme zu helfen. Die Quittung: nun muss man sich von der Türkei und Griechenland erpressen lassen, denen man die unangenehmen Aufgaben überlässt, damit man weiterhin der Welt ein freundliches Gesicht zeigen kann.

Das ist nicht nur verlogen, es enthüllt auch den westlichen Menschenrechtsinterventionismus als unholden Wahn. Denn plötzlich kommen sie gerade recht, die starken Männer, Assad oder Putin, weil sie können, was ein vor unschönen Bildern zurückschreckendes Publikum hierzulande nicht ertragen würde: die Explosivkräfte gewaltsam unter dem Deckel zu halten.

Die Migrationsbewegung, die wir gerade erleben, ist längst, völlig ungeachtet der Motive der Menschen, die sich da auf den Weg gemacht haben, zur Waffe geworden. Ja, sie werden instrumentalisiert: aber sicherlich am wenigsten von denen, die die Weisheit der Regierenden bezweifeln.

Wir schwenken Friedensfahnen. Die anderen aber erkennen darin das weiße Tuch der Kapitulation.
Man könnte verzweifeln.

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Leserpost

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Burkhart Berthold / 20.11.2015

Man könnte, aber das werden wir nicht tun. Wir haben nur eine schlechte Regierung, aber das geht vorüber. Wir haben ein Unglück voraus, aber das werden wir überstehen. Damit wir es überstehen, brauchen wir Leute wie Sie.

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