Von Jürgen Kremb.
Stell Dir vor, der Dritte Weltkrieg ist abgesagt, aber keiner hat’s gemerkt. So oder ähnlich könnte man den politischen Schwenk beschreiben, der den gesamten asiatischen Kontinent verändern wird, ohne dass die Medien hierzulande davon Notiz genommen haben. Zu deren Entschuldigung sei gesagt, es passierte quasi en passant. Man habe sich auf einen Entwurf eines „Code of Conduct“ zum südchinesischen Meer geeinigt, eines Verhaltenskodexes also, um militärische Konflikte zwischen China und den ASEAN-Staaten in Zukunft schon im Keim zu ersticken. Das ließ Pekings Vize-Außenminister Liu Zhenmin kürzlich am Rande einer Arbeitskonferenz mit seinen ASEAN-Amtskollegen verlauten. Das mag jetzt einige Apologeten des Weltunterganges verärgern, aber damit scheint der Ausbruch des Dritten Weltkriegs erst mal abgesagt. Zumindest im südchinesischen Meer, einer der gefährlichsten Konfliktzonen Ostasiens.
Vor einem Jahr, am 12. Juli 2016, sah das noch ganz anders aus. Da hatte der damalige Präsident der Philippinen, Benigno Aquino, einen Entscheid gegen die Volksrepublik China vor dem internationalen Seegerichtshof in Den Haag erwirkt. Das Urteil besagte, dass eine weiträumige Besetzung des südchinesischen Meeres, entlang der von China beanspruchten Neun-Streiche-Linie, mit internationalem Recht nicht vereinbar sei. Peking war über den Urteilsspruch sichtlich erbost. Denn Asiens neue Supermacht rechtfertigt seinen Anspruch auf das 3,6 Millionen Quadratkilometer große Seegebiet, in dem immense Rohstoffvorkommen vermutet und gut die Hälfte des Welthandels führt, mit „historischen Ansprüchen“.
Aber anstatt das Problem so zu lösen, wie das Großmächte immer getan haben in der Geschichte um Großmacht zu werden, nämlich mit Krieg, wählte Peking eine andere Gangart. China beharrte gegenüber den südostasiatischen Konfliktparteien, den Disput in bilateralen Gesprächen zu lösen. Dem widersetze sich unter anderem Singapur. Die Regierung des Stadtstaates befürchtete, dass China die mühsam gestrickte Außenpolitik unter den zehn ASEAN-Mitgliedernationen untergraben könnte. Als dann noch der neugewählte US-Präsident Donald Trump gegen Chinas Ansprüchen auf das Meeresgebiet protestierte, drohten seine Sicherheitsberater schon damit, dass die tropischen Gewässer den Nährboden für einen Weltkrieg bereiten könnten.
Davon ist jetzt keine Rede mehr. Zwar sei das Papier noch geheim und auch wäre nicht ganz klar, wie eine rechtliche Bedingung des Verhaltenskodex garantiert werden könne, aber man sei sich mit den ASEAN-Staaten weitgehend einig, so der chinesische Spitzendiplomat Liu äußerst jovial, dass man eine Regelung unter „Gentlemen“ und „alten Freunden“ schon finden werde. Die Zustimmung durch die Staatschefs beim nächsten ASEAN-Gipfel gilt nur noch als Formsache.
China macht sich mehr Freunde als Feinde
Offenbar hat sich unter den ASEAN-Staaten mittlerweile die Meinung durchgesetzt, dass Widerstand gegen China ohnehin wenig zukunftsträchtig sei. Während die westliche Welt auf die Konflikte im Weißen Haus starrt und Asien über Europas Flüchtlingsdebakel den Kopf schüttelt , richtet es sich China überraschend souverän, lautlos und zielstrebig als zweite globale Supermacht ein. Zumindest in Südostasien schafft es das Land, sich dabei sogar mehr Freunde als Feinde zu machen.
Ein Politiker, der das wohl im Moment besonders zu seinem Vorteil nutzt, ist der philippinische Präsident Rodrigo Duterte. Gleich nach seiner Wahl im Sommer vergangenen Jahres scherte er nicht nur aus der gemeinsamen ASEAN-Line aus und verhandelte die Causa Südchina-See direkt mit Peking. Kurz darauf wendete er sich auch - zugeben mit gewöhnungsbedürftiger Rhetorik - von der einstigen Schutzmacht USA ab. Seitdem berieselt Chinas Staatchef Xi seinen neugewonnenen Freund Duterte mit vielen Milliarden US-Dollar, die vor allem der maroden Infrastruktur des Dritt-Weltlandes zugute kommt. Auch gewährt die chinesische Marine philippinischen Trawlern jetzt wieder Zugang zu den Gewässern rund um die umstrittene Scarborough Sandbank, an der sich der Haager Urteilsspruch entzündet hatte. Längst diskutieren die beiden Länder darüber, einige der umstrittenen Inseln gemeinsam zu Touristenressort auszubauen.
Nicht anders ergeht es Malaysia. Auch der dortige Premierminister Najib Razak kommt Pekings Erwartungen von einer bilateralen, anstatt einer multilateralen Lösung des Problems Südchina See entgegen. Auch das zahlte sich trefflich aus. Chinesische Anleger haben das muslimische Land mit Investments in Höhe eines gut zweistelligen US-Dollar-Milliardenbetrags überschwemmt. Zu nicht unerheblichen Tranchen floss das Geld in ehemalige Investmentruinen des Staatsfonds 1MDB. Der war in Schieflage geraten, weil eine Clique um Premier Najib Razak die Gelder auf Privatkonten umgelenkt hatten. Allein Najib soll gut eine Milliarden US-Dollar erhalten haben. Böse Zungen mögen all dies als eine Art Monroe-Doktrin „Made in China“ bezeichnen. Mit diesem Leitsatz hatte die USA im 19. Jahrhundert ihren Anspruch auf die Vorherrschaft im amerikanischen Kontinent festgeschrieben.
Aber was bleibt den ASEAN-Ländern anderes übrig? Um Jobs für die mehr als 625 Millionen Menschen in zehn Mitgliedsstaaten zu schaffen, braucht die neue Werkbank der Welt einen Fortgang der Globalisierung und offenen Märkte. Aber diese Tür hat Präsident Trump schon vor seinem Amtsantritt mit seiner Abkehr von transpazifischen Handelsabkommen TTP krachend zugeschlagen. China hingegen verspricht sie noch weiter zu öffnen.
Singapur muss sich Sorgen machen
Doch gibt es nicht nur Gewinner bei dieser Entwicklung. Zum größten Verlierer all dieser machtpolitischen Rocharden droht ausgerechnet der gut vernetzte Bankenplatz Singapur zu werden. Immer klarer wird dieser Tage, dass China genau in die Sektoren der malaysischen Wirtschaft investiert, bei denen der Stadtstaat bisher eine Führungsrolle in der Region innehatte. So entsteht gleich jenseits der Landesgrenze, im sogenannten Iskandar-Korridor auf malaysischer Seite eine gigantische Wohnstadt zu deutlich günstigeren Preisen, als das in der Finanzmetropole üblich ist. Dazu kommen Ausbildungsstätte und Universitäten, eine Motorsportarena und weiter nördlich gar gigantische Containerhäfen, vor denen sich Singapurs Hafenbetreiber anfangen müssen zu fürchten.
Auch in der Tagespolitik scheint es, als läge zwischen dem riesigen Drachen im Norden und dem vorlauten Zwergstaat, so die Pekinger Sicht, einiges im Argen. Zuerst war Singapurs Botschafter in Peking für die vermeintlich negative Rhetorik zum südchinesischen Meer gerüffelt worden. Dann hielten Hongkongs Zollbehörden zu Jahresbeginn neun Radpanzer der singapurischen Armee, die von einer militärischen Übung bei Chinas Erzfeind Taiwan zurückgekommen waren über Wochen fest. Und das, obwohl der Stadtstaat ohne Hinterland seine Soldaten schon seit Jahrzehnten in Taiwan trainieren lässt.
Als dann noch die englischsprachige South China Morning Post in Hongkong vermeldete, Singapurs Premier Lee Hsien Loong sei deshalb nicht zum Pekinger Seidenstraßen-Gipfel im Mai eingeladenen worden, weil seine Politik als zu freundlich gegenüber den USA interpretiert werde, war Feuer unterm Dach. Peking ist verärgert darüber, dass die US-Marine in Singapur mittlerweile ihren größten Flottenstützpunkt in der ASEAN-Region unterhält. Pekings Strategen sahen den Stadtstaat stets als Teil der chinesischen Diaspora an. Und da gilt eben der Grundsatz, dass Blut dicker als Wasser ist.
Bevor noch mehr chinesische Dollar-Milliarden nach Malaysia abfließen, scheint Singapur aber nun aus der schmerzhaften Lektion Pekings gelernt zu haben. Anfang Juni trafen sich Verteidigungsminister und Sicherheitsexperten turnusgemäß in Singapur zum traditionsnellen Shangri-La Sicherheitsdialog. Und da ließ Premier Lee kein Mikrofon aus, um zu betonen, dass der Marinehafen, der jetzt an die USA vermietet werde, „selbstverständlich immer“ auch für die chinesische Flotte offen stehe.
Wenn es um pragmatische Politik geht, ist Asien derzeit Europa und den USA eben Meilen voraus. Geld nutzt man dort nicht mehr um Kriege zu führen, sondern um sie zu verhindern.
Dieser Artikel erschien in leicht geänderter Fassung am 23. Mai in der NZZ
Jürgen Kremb studierte Ostasienwissenschaften und berichtete zwei Jahrzehnte für den SPIEGEL als Korrespondent aus Asien. Heute betreibt er eine Beratungsfirma mit Sitz in Singapur und Wien. Gelegentlich schreibt er von dort noch für die NZZ, das Handelsblatt und andere.