Vorige Woche habe ich hier auf Achgut.com über die Ansprache von Präsident Macron nahezu unkommentiert berichtet. Offenbar haben einige Leser tief enttäuscht daraus geschlossen, dass ich mit der Politik der Macron-Regierung d’accord bin oder sie besser finde als die deutschen Corona-Maßnahmen. Liebe Leser, dem ist nicht so. Ich versuche lediglich zu berichten, was gerade hier in Frankreich los ist.
Seit Freitag sind nun alle Geschäfte in Paris wieder geöffnet. Es gab einen riesigen Kundenansturm, der Nachholbedarf war wohl recht groß. Doch die Freude über ein winziges Stück wieder einkehrende Normalität währte nur kurz.
Die Macron-Regierung versuchte, unter dem Corona-Radar ein neues Gesetz zu verabschieden, dass Filmen und Fotografieren von Polizisten im Einsatz unter empfindliche Strafe stellte. Eigentlich war es gegen Islamisten gerichtet, die angefangen haben, Polizisten zu bedrohen. Aber die Formulierung des Verbotes war so butterweich, dass die Bürger Pressefreiheit und die Bürgerrechte gegen übergriffige Polizeiwillkür bedroht sahen. Da passte der Regierung ein Überwachungskamera-Video überhaupt nicht in den Kram, auf dem zu sehen war, wie vier Polizisten einen farbigen Musikproduzenten in seinem eigenen Studio minutenlang zusammenprügelten und rassistisch beleidigten. Macron stellte fest, dass das Verhalten der Polizisten „eine Schande“ wäre und lässt das Gesetz überarbeiten.
59 französische Polizisten verübten im letzten Jahr Selbstmord
Seine Aussage ist recht heuchlerisch, wenn man berücksichtigt, was sich seit längerer Zeit in Frankreich abspielt. Erst wollte die Regierung international bei der Klimarettung punkten und die Lasten ungefragt dem kleinen Mann aufbürden, der daraufhin die gelbe Weste überstreifte. Der Staat reagierte mit großer Härte gegen die Bürgerproteste. Es gab zwei Tote, fünf abgerissene Hände und 20 ausgeschossene Augen, was die Ordnungskräfte nicht gerade beliebter machte. Dann kamen die völlig unangemessenen Corona-Restriktionen, die mit großem Nachdruck durchgesetzt wurden. Natürlich wurde dieser Nachdruck verstärkt für die „braven Bürger“ spürbar, während in den No-Go-Banlieues zu oft weggesehen wurde. Dadurch staute sich Frust auf beiden Seiten an, bei den Bürgern und bei der Polizei.
Dieser Frust entlud sich am Wochenende wieder einmal in Groß-Demonstrationen. 400.000 Menschen sollen landesweit auf die Straße gegangen sein. In Paris und Rennes kam es zu Ausschreitungen. In den deutschen Medien wird eher verhalten darüber berichtet. Zu groß ist die Sorge, dass Parallelen zum „Querdenkerprotest“ gegen das neue Bevölkerungsschutzgesetz und dem Verfahren, in dem es an einem Tag durchgepeitscht wurde, gezogen werden könnten. Polizeigewalt gibt es in deutschen Medien immer nur dann, wenn Aktivisten „Widerstand“ leisten. Ansonsten ist „durchgreifen“ angesagt.
Ich will hier keine Lanze für übergriffige französische Polizisten brechen. Die Ordnungskräfte sitzen zwischen allen Stühlen. Ausgelaugt, frustriert und mit den sich widersprechenden Maßnahmen, die sie durchsetzen müssen, oft selbst nicht einverstanden. Und ja, nicht alle der 150.000 französischen Polizisten sind Gold-Engelchen. Dennoch, sie haben es nicht leicht. 59 französische Polizisten verübten im letzten Jahr Selbstmord.
Notre Dame ohne Brandschutz
Ich sehe weder strukturelle Gewalt noch strukturellen Rassismus bei der französischen Polizei, sondern eher strukturelle Unfähigkeit der französischen Regierung, eine vernünftige Politik zu machen und angemessen auf Krisen zu reagieren.
Noch immer ist die Ursache des Brandes der Notre Dame ungeklärt, und es ist fraglich, ob sie je gefunden werden soll. Doch einiges ist heute klarer, nämlich wie es zu den verheerenden Folgen des Brandausbruchs kommen konnte. Denn stets gibt es bei solchen Katastrophen Umstände, die es überhaupt ermöglichen, dass Schlimmes eintritt. Die Titanic wäre nicht gesunken, wenn nicht die Schiffsführung davon überzeugt gewesen wäre, dass sie „unsinkbar“ ist und sie deshalb mit 22 Knoten – das sind gut 40 Kilometer pro Stunde mit einem Bremsweg von einem Kilometer – bei Nacht durch eine Eisbergzone brettern ließ. Die 1.500 unglücklichen Passagiere wären nicht im eiskalten Nordatlantik erfroren, wenn genügend Rettungsboote vorhanden gewesen wären. Aber die brauchte man ja nicht für ein unsinkbares Schiff.
Was sind also die Umstände, die zu dem verheerenden Brand der Kathedrale Notre Dame de Paris führten? Offenbar glaubten die Verantwortlichen, die Kirche wäre „unbrennbar“, sonst wäre der bodenlose Leichtsinn nicht zu verstehen. Sie wiegten sich in falscher Sicherheit, schließlich hatte es seit 800 Jahren in der Notre Dame nicht gebrannt.
Es gab ein Zuständigkeitswirrwar: In Frankreich gehören Kathedralen dem Staat und werden von der Kirche nur „betrieben“. Und wie es in solchen Fällen immer ist: Wenn mehrere zuständig sind, fühlt sich keiner verantwortlich. Daraus ergaben sich für die Notre Dame schier unglaubliche Zustände auf dem Gebiet des Brandschutzes.
Schwachstelle um Schwachstelle
Es gab im Dachbereich der Kathedrale keine Brandlöschanlage. Die massiven Eichenbalken, genannt la forét, die 1.300 Eichen, galten nämlich als „sehr schwer entflammbar“. Eiche bildet eine Schutzschicht, die sie schwer entflammbar macht, das gehörte zum mittelalterlichen Brandschutzkonzept. Für die Großbaustelle der Dach-Renovierung gab es kein umfassendes Brandschutzkonzept. Auch versäumte man, im Dachbereich Sicherheits-Kameras zu installieren. Nun konstatiert die Untersuchungskommission, eine Zigarettenkippe könne die Brandursache sein. Na klar, wenn ich meinen Kamin anheizen will, werfe ich auch immer eine Kippe auf die dicken Holzscheite, um mich an den lodernden Flammen zu erfreuen.
Eine weitere Schwachstelle war der Spitzturm, genannt la fléch. Er wurde 1859 nachträglich errichtet und verletzte durch seine Bauweise das mittelalterliche Brandschutzkonzept der Kirche. Die steinernen Kreuzgewölbe stellten nämlich eine Brandmauer gegen ein Feuer im Dach dar und hätten dessen Einsturz bei einem Brand ertragen. Nicht aber den Einsturz des Spitzturms, der auch aus Eichenbalken bestand, die aber mit 250 Tonnen Blei verkleidet waren. Als er zum Entsetzen der Pariser zusammenstürzte, durchschlug er eines der Kreuzgewölbe und gefährdete so die ganze Kathedrale. Die gänzliche Zerstörung des Gotteshauses wurde durch den Einsatz einiger mutiger Feuerwehrleute und eines Löschroboters verhindert. Darüber hinaus hatte man sogar noch eine weitere Schwachstelle installiert. Die Glocke im Spitzturm hatte einen elektrischen Antrieb, obwohl es im Dach aus Brandschutzgründen gar keine Elektrik geben durfte.
Die stationäre Brandwarnanlage der Kirche besaß 26 Rauchmelder, deren Signale auf einer Art Kontrollpaneel in einem Nebengebäude aufliefen. Dieses Kontrollpaneel war rund um die Uhr besetzt. Ursprünglich waren zwei Brandwächter pro Schicht vorgesehen. Durch eine Einsparmaßnahme wurde dies auf eine Person reduziert. Am Tage des Brandes war das Pult mit einem Neuling besetzt, der den Job gerade erst angetreten hatte und sich nicht auskannte. Es war seit sieben Uhr morgens im Dienst und wurde um 17 Uhr nicht planmäßig abgelöst, da sein Nachfolger irgendwie verhindert war. Sein Chef sagte ihm am Telefon, er solle auf Ablösung warten. Also holte er sich erst mal ein Sandwich und wartete.
Drei Kirchen werden pro Tag in Frankreich geschändet
Gegen 18:20 lief ein Rauchmelder-Alarm auf, mit dem der Neuling allerdings nichts anfangen konnte. Der Alarm war in etwa mit „Linie 5 und Sakristei“ bezeichnet. Da er diese Bezeichnung nicht verstand, versuchte der Brandwächter mehrfach, seinen Chef anzurufen, konnte ihn aber nicht erreichen. Also rannte er in die Sakristei, die sich in einem anderen Nebengebäude der Kathedrale befand. Er konnte nichts feststellen. Erst gegen 18:45 Uhr erreichte er seinen Chef, der die Feuerwehr verständigte. Aber zu dieser Zeit drang schon dicker Rauch aus dem Dachbereich nach außen.
Die Verantwortlichen für die Kathedralen in Frankreich haben es wohl zur Einordnung der Gefahr auch nicht so mit der „Nutzung von Betriebserfahrung“. Drei Kirchen werden pro Tag in Frankreich geschändet. Im vergangenen Jahr brannten neben der Notre Dame auch die Kathedrale St. Sulpice in Paris durch Brandstiftung vor einer ihrer Türen, ebenfalls die Cathédrale von Nantes, durch eine Brandstiftung im Inneren der Kirche, bei der die historische Orgel völlig zerstört wurde.
Es gibt zum Glück auch gute Neuigkeiten. Das riesige 200-Tonnen-Baugerüst, welches beim Brand der Kathedrale Notre Dame teilweise zusammengeschmolzen war und mit seinem potenziellen Einsturz die Substanz der Kirche gefährdet hätte, ist mittels artistischer Arbeiten endlich abgebaut. Ein paar neue Gerüste für den Wiederaufbau des Daches und andere dringend notwendige Rettungsarbeiten an beschädigten Gebäudeteilen stehen bereits.
In einer Pressemitteilung vom Montag, dem 30. November, kündigte der Erzbischof von Paris, Michel Aupetit an, dass am Heiligabend in der Kathedrale Notre-Dame de Paris ein Konzert stattfinden wird, allerdings leider noch ohne Publikum. Es wird dafür im Fernsehen auf France 2 und KTO ausgestrahlt. Diese Konzertveranstaltung, unter der Leitung von Musikdirektor Henri Chalet, wird dargeboten von 20 Sängerinnen und Sängern des Erwachsenenchors, begleitet von Yves Castagnet an der Orgel – ein für diesen Anlass extra angemietetes Instrument, die Orgel der Notre Dame ist in Reparatur – sowie zwei Solisten: Julie Fuchs (Sopran) und Gautier Capuçon (Violoncello).