Von Sissy Hewson
Nach Jahren der Ballettverweigerung verhalfen mir Umstände zu einer Ballettkarte zum heißbegehrten Dornröschen von Tschaikowski in der Wiener Staatsoper. Sauteuren Karten. Nichtsdestoweniger ausverkauft, alle Plätze bis in die letzten Ränge, die wohl nur noch sich hin- und herschiebende helle Punkte auf Brettern beobachten konnten. Viele Kinder, viele ausländische Besucher, viel Begeisterungsstimmung, schon bevor sich der Eiserne Vorhang erhob. Darauf war ein Zitat des Konzeptkünstlers Cerith Wyn Evans zu lesen: „Lass es zu, von dem, was Du gerade jetzt liest, in eine andere Situation hinüberzugleiten, in ein anderes Handeln innerhalb der historischen und psychischen Orte, in denen Dein Lesen im Hier und Jetzt geschieht. Hier – und jetzt – den Platz einnehmend für andere leidenschaftliche und aufgeladene Verbindungen zwischen uns. Stell Dir eine Situation vor, in der Du Dich mit größter Wahrscheinlichkeit noch nie befunden hast.“
Nun ja, dachte ich mir, oft war ich noch nicht im Ballett, vielleicht meint er mich. Oder was immer er meinen mag.
Die Inszenierung basierte auf einer ausstattungsopulenten Version von 1890, und irgendwie sah es auch so aus: Brokat, Plüsch und goldbraune Düsternis. Männer mit Stöckelschuhen (die Stöckel rot, dereinst Mode, durchaus putzig) schritten in schweren Roben hin und her, mit Ordonanzstäben bewaffnet, die sie andächtig hielten. Da könnte ich auch mitmachen, dachte ich mir. Aber mit diesen kratzigen Allongeperücken auf dem Kopf vielleicht doch lieber nicht.
Aber darum ging es ja nicht. Es ging um das Märchen vom langersehnten Töchterlein, das von einer zur Geburtsfeier nicht eingeladenen Weisen Frau (Hexe?), die darob schwer beleidigt ist, verflucht wird, mit 15 nach dem Stich an einer Spindel (Freud, schau oba!) tot umzufallen. Eine der weisen Frauen verwandelt diese Gemeinheit in einen 100-jährigen Schlaf, aus der sie dann ein Prinz erretten wird. Ende gut, alles gut.
Nur: Das Ende war noch in weiter Ferne. Beginn 19 Uhr, Ende 23 Uhr. Zwei Pausen.
Also: Pathetischer Aufmarsch des schwergewandeten Hofstaates, des Königs und der Königin, noch schwerer gewandet, und viel im-Kreis-herumgehen-und-einander-zunicken oder mit manirierten Handfächeleien einander zuwinken. Einmarsch von Weisen Damen, begleitet von Kindern, die Geschenke tragen, zum Hintergrund, zum Babybett, von Schabracken und Vorhängen umhüllt. Immer wieder und wieder. Und immer wieder dieselben.
Dann Auftritt der bösen Dame, natürlich in schwarzem Wallekleid, (vielleicht von der Königin der Nacht entliehen), hereingetragen auf einem schwarzen Thron, umsprungen von schiachen Masken. Wild mit den Armen wedelnd, um ihren Zorn auszudrücken, verflucht sie das Stoffbündel im Arm der Königin, um schließlikh unter Rauch und Feuer wieder von dannen zu ziehen.
Zwischendurch tänzelt man in Gruppen, tänzeln einzelne Spitzenkönner, tänzeln Spitzentanzpärchen. Es ist ein Getrippel und Gespringe, einmal von links nach rechts, dann von rechts nach links. Schwerelos hüpft man in Pirouetten, verbiegt das Kreuz gummiartig, bringt es fertig, Arme wie wellige Tentakel aussehen zu lassen. Alles äußerst gekonnt und perfekt – aber immer dasselbe. Die Primaballerina, das 15-jährige Töchterlein, steht dann minutenlang bewegungslos auf den Zehenspitzen, um die Handküsse der Verehrer entgegenzunehmen, eine unglaubliche Körperbeherrschung.
Die Handlung geht theatralisch weiter. Da die Tänzer ja weder reden noch singen dürfen werden (für mich) undeutbare Gesten in das plattfüßige Schreiten und Auf-Spitzen-Drehen eingearbeitet. (Was bedeutet es, wenn ein Mann=Prinz bewundernd mit dem Handrücken das Kinn umrundet? „Hab’ mich heute extra für Dich rasiert!“ oder „Wie schön Du doch bist, ganz ohne Doppelkinn!“?).
Nach gefühlten acht Stunden gehen die Lichter an, eigentlich wäre alles erledigt, Dornröschen wurde aus dem rosenumrankten Schloss befreit, alles wacht auf, der Prinz küsst nach erwähnten Kinnstreichgesten das Mädel – doch das ist erst die zweite Pause! Und noch keine Rede vom Ende der Vorstellung.
Wie war das bei Cerith Wyn Evans zu lesen: „Lass es zu, von dem, was Du gerade jetzt liest, in eine andere Situation hinüberzugleiten…“. Da hat er jetzt sicher mich gemeint! Während auf der Bühne endlos lang ein Hoffest gefeiert wird und wieder Pärchen zuerst zu zweit, dann jeweils alleine, von rechts nach links und von links nach rechts in Tütüs und weißen Strumpfhosen auf Spitzen trippeln und springen, (die einzige Abwechslung ist ein maskiertes „Katzenpärchen“, das zwischen dem Spitzenbalancieren ein bisschen herummiaut), gesäumt vom fächelnden und wachelnden Hofstaat, gleite ich in augenoffenen Halbschlaf. Als alle Pärchen durch sind – kommen sie natürlich noch einmal. Die Riesenüberraschung am Ende ist, dass der König, wieder bedeutungsvoll schreitend, die Hand seiner Tochter in die des Prinzen legt.
Während die Zuschauermassen mit Jubelschreien Blumen auf die Bühne warfen, bin ich gegangen.
Was sehen die alle, was ich nicht sehe? Welches Gen fehlt mir bloß? Warum nur, warum? Wenn ich nun meinem Unverständnis freie Luft mache und auf grandiose Tanzszenen von Gregory Hines und Michael Baryschnikow verweise, die mich durchaus mitreißen können, auf Tanzszenen aus West Side Story oder einen Fred Astair, einen Gene Kelly, werde ich sofort niedergelächelt und mit Kopfschütteln in die Banausenecke gestellt.
Ich fürchte, in der muss ich bleiben.
Sissy Hewson ist Autorin, Librettistin, Globetrotterin und Wienerin