Wolfgang Röhl / 16.04.2012 / 09:35 / 0 / Seite ausdrucken

Vatis Argumente reloaded. Mit Dank ans Abendblatt

Das langweiligste Druckerzeugnis, das in Hamburg produziert wird, ist das „Hamburger Abendblatt“. Sein Motto, 1948 von Axel Springer höchstselbst geprägt, lautet „Seid nett zueinander“. So ist der Tenor seiner Meinungsartikel bis heute. Alle Konflikte, ob es um Zoff über die Außenbewirtung in gentrifizierten Stadtteilen geht oder um Genozide in Afrika, könnten laut Abendblatt gelöst werden, würden die Menschen einander nur mehr zuhören und sich irgendwie auf Kompromisse verständigen. Damit hat es die Zeitung zur unangefochtenen Marktführerin in der Disziplin Lehnstuhl-Weltbetrachtung gebracht, wie sie vom bräsigen Bürgertum der Hansestadt goutiert wird.

Zu den Meriten des Abendblatts, dass muss man auch sagen, gehört seine Rolle in Zeiten der großen Aufgeregtheit, sprich der Studentenbewegung. Während die meisten Springer-Blätter gegen „langhaarige Affen“ hetzten, hielt sich das liberalere Hanseatenblatt damals so weit bedeckt, wie das im Springerkonzernklima der Jahre 1967ff überhaupt möglich war. Genutzt hat es Nettmenschen vom Abendblatt im Ansehen der damaligen Revoluzzer wenig –  als „scheißliberal“ verhöhnten sie diese Haltung.

Lange her. In meinem Oberstübchen pocht unweigerlich das Sandmännchen an, wenn ich mal, in einem Frühstückslokal oder so, ins Abendblatt schaue. Nahezu niemals finde ich da einen Gedanken, der frisch oder provokant wäre, von gut formuliert zu schweigen. Bis ich neulich einen kurzen Kommentar zur „Bilanz zum Alkoholverbot im Nahverkehr“ las, welche – hier bitte schmunzeln! – „ernüchternd“ ausgefallen sei. Zwei Drittel der Hamburger, so habe eine Umfrage des Verkehrsverbundes ergeben, hätten keine Auswirkungen bei Sauberkeit und Ordnung beobachtet, noch fühlten sie sich sicherer vor Gewalt oder Belästigungen.

Und was empfiehlt das Blatt der netten Menschen? Stärkere Kontrollen fordert es, damit sich der „Fahrkomfort“ und die „Attraktivität des ÖPNV“ erhöhe. Wie man die in der zweitgrößten Metropole der Republik, wo es schon jetzt auf bestimmten Strecken und zu bestimmten Zeiten vor Aggressivität nur so knistert, durchführen soll; mit schlecht ausgebildeten Kontrolleuren, die bei jedem Durchgreifen sofort an den Medienpranger gestellt werden, bleibt schleierhaft. Aber meinetwegen.

Der letzte Absatz des Kommentars allerdings könnte einen zum Heulen oder zum Wutgebrüll treiben, je nach Tagesform. Die Debatte um das in Hamburg umstrittene Alkverbot in Bussen und Bahnen, so findet der Abendblatt-Kommentator

„erinnert in gewisser Hinsicht an den Streit um das Rauchverbot in Gaststätten. Vielleicht geht es uns mit dem Alkoholverdikt in ein paar Jahren so wie bereits jetzt mit dem Verbot des Tabakkonsums in Restaurants: wir können uns gar nicht mehr vorstellen, dass es einmal erlaubt war.“

Abgesehen davon, dass es beim Streit um das Rauchverbot nie besonders um das Qualmen in Restaurants ging, sondern vor allem um das in kleinen, gemütlichen Kneipen, welche durch die Gesundheitskreuzzügler laut einer neuen Untersuchung massenhaft in die Pleite getrieben wurden, abgesehen also von der Generaldebatte, ob tugendterroristische Bestrebungen und Kindermädchenstaat immer weiter befördert werden sollten, hat mich dieser kleine, furchtbare Satz erschüttert:

„Wir können uns gar nicht mehr vorstellen, dass es einmal erlaubt war.“

Was muss im Kopf eines jüngeren Journalisten vorgehen, der Entmündigungen mit dem Hinweis begrüßt, diese müssten nur lange genug aufrecht erhalten werden, damit die Erinnerung an das Vorher, das Früher vollkommen verschwindet? Das, mein lieber Scholli, verrät eine derart totalitäre Denke, dass einem – mir jedenfalls – das kalte Kotzen kommt. Was für ein Abgrund an Obrigkeitshörigkeit, an Blockwarttum tut sich da auf? Wie gehirngewaschen, weichgespült und sämtlicher freiheitlicher Grundinstinkte beraubt muss man sein, um die Idee zu bejubeln, ein angebliches gesellschaftliches Fehlverhalten müsse dadurch ausgemerzt werden, dass es einfach nicht mehr vorstellbar sei?

Das ist Nordkorea light, das ist – Verzeihung – eine scheißfaschistoide Gesinnung. In die Tastatur gehackt von einem, der möglicherweise sogar eine gute Journalistenschule durchlaufen hat. Wo sie bekanntlich eine Sentenz hochhalten, die von einem verstorbenen Doyen des so genannten Qualitätsjournalismus stammt und die da lautet: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich mit keiner Sache gemein macht, auch nicht mit einer guten“. Originalton Hajo Friedrichs.

Mir kommt da die Erinnerung an ein Buch, das mich in meiner Jugend stärker beeindruckt hat als das meiste, was ich danach gelesen habe. Es handelt sich um „1984“. Meine Lieblingspassage ist nicht die berühmte Folterszene im Zimmer 101. Sondern jene, in welcher Winston Smith, Angesteller im „Wahrheitministerium“, doch bereits entfremdet vom Großer-Bruder-Irrsinn, in einem verbotenen Antiquariat stöbert. Wo Dinge illegal aufbewahrt werden, von denen man sich „gar nicht mehr vorstellen kann, dass sie einmal erlaubt waren“. Nutzlose Dinge, schädliche Sachen, zersetzendes Zeug. Das weggesperrt, ja sogar aus der kollektiven Erinnerung getilgt gehört.

Ist das jetzt übertrieben? Bin ich paranoid? Mag manchen Leuten so vorkommen, deren erinnerungswürdigstes Erlebnis die Umbenennung von Raider in Twix (1991) war. Die mit einem anschwellenden Tsunami von Verboten, einer immer dreister werdenden Einmischung in ihr eigenes Leben inzwischen ganz selbstverständlich umgehen – Menschen ab Jahrgang 1980, grob geschätzt. Die es normal finden, dass jede grün angestrichene Aktivistentruppe, jeder selbsternannte Wohlfahrtsausschuss ihnen irgendein Verhalten diktieren möchte. Die es womöglich sogar lieben, fremdbestimmt zu sein, ihr Urteilsvermögen zu delegieren. Auf gut Orwellsch gesagt: die Unwissenheit für Stärke halten.

Ich selber bin durch das Studentenrevolutiönchen, siehe oben, insofern privilegiert worden, als dass es – anfänglich jedenfalls - keinerlei Verbote aufstellte, sondern im Gegenteil welche zertrümmerte. Pathetisch gesagt: ich wurde von einer Bewegung befreit, die den politisch-moralischen Muff der Fünfziger und frühen Sechziger unwiederbringlich auslüftete. Aus bestimmten Zeitgenossen kriegst du das nicht raus: das grundsätzlich Antiautoritäre, Renitente, Unumerziehbare.

Dazu gibt es einen wunderbaren Satz aus dem Lied „Vatis Argumente“ von Franz Josef Degenhardt, den er 1968 einem Gegner von Rudi Dutschke in den Mund legte. Der Satz war seinerzeit natürlich ganz anders gemeint. Er hört sich, im Stakkato-Sprechgesang des bärtigen Barden, so an:

Wir-lassen-uns-von-euch-nicht-sagen-wie-wir-zu-leben-haben!

Den Satz habe ich aus seinem ursprünglichen Zusammenhang erlöst. Gewissermaßen von Väterchen Franzens ideologischem Überbau befreit. Ich sage ihn mir manchmal auf, wenn es den üblichen Gouvernanten mal wieder gefällt, ein kommendes Verbot, die nächste Repressalie, eine neue Sanktion aufzubauen. Auf dass unsere Welt neuer, schöner, sauberer, gesünder, friedlicher und - vor allem - gerechter werde.

Traurig aber wahr: an Vatis Argumenten ist was dran. Immer noch.

 

 

 

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